Mehrsprachigkeit

Angelika Hrubesch und Verena Plutzar 2008, aktualisiert 2013

Mehrsprachigkeit bedeutet für ein Individuum, dass mehrere Sprachen in verschiedenen Lebenszusammenhängen benützt werden. Die Sprachen müssen nicht alle auf gleichem und vor allem nicht auf gleich gutem Niveau in allen sprachlichen Fertigkeiten (hören, sprechen, lesen, schreiben) und in allen Lebensbereichen beherrscht werden. Der Grad der Beherrschung differiert je nach Funktion der Sprache und je nach Sphäre, in der die Sprache benützt wird. Außerdem verändern sich Sprachkompetenzen je nach Lebenssituation, wenn sich damit zusammenhängend auch die Sprachverwendung ändert. Demnach ist Mehrsprachigkeit nicht als etwas Statisches zu betrachten, sondern vielmehr als etwas Dynamisches, das sich im Laufe des Lebens wandelt.

 

Vielsprachigkeit - Mehrsprachigkeit

"Vielsprachigkeit" bezeichnet dem Europarat zufolge die Kenntnis einer bestimmten Anzahl von Sprachen bzw. die Koexistenz verschiedener Sprachen in der Gesellschaft, die zum Beispiel durch ein breites Sprachenlernangebot in Schulen erreicht werden kann. Dagegen wird von "Mehrsprachigkeit" gesprochen, wenn sich "die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert". Der Mensch entwickelt demnach eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen. Die unterschiedlichen Sprachen stehen miteinander in Beziehung stehen und Menschen können flexibel auf verschiedene Sprachkompetenzen zurückgreifen (Europarat 2001).

Mehrsprachigkeit von MigrantInnen

Hinsichtlich der Aneignungsbedingungen von Sprachen kann man zwischen Erst-, Zweit- und Fremdsprachen unterscheiden (siehe auch Sprachen lernen). Die deutsche Sprache für MigrantInnen in Österreich wäre demnach je nach Alter und Sprachverwendung als Erst- oder Zweitsprache der VerwenderInnen zu bezeichnen. Menschen können mehrere Erst- und mehrere Zweitsprachen haben und auch zusätzlich noch Fremdsprachen lernen.


Während Mehrsprachigkeit und deren Förderung grundsätzlich als allgemein gültige Bildungsziele gelten, die sich in Curricula und Programmen ausdrücken, wird die (vorhandene) Mehrsprachigkeit von MigrantInnen von der Aufnahmegesellschaft zumeist nicht wahrgenommen und anerkannt. Die Fokussierung auf das Deutsche allein bedeutet für MigrantInnen nicht nur einen Ausschluss von gesellschaftlicher Partizipation, sondern lässt auch ihre Ressourcen und Potentiale ungenützt. Die Rolle der Erstsprache für den Zweitspracherwerb ist seit langem für die Sprachentwicklung von Kindern bekannt. Auch für Erwachsene gilt, dass das Lernen einer weiteren Sprache dann besonders gut gelingt, wenn bewusst auf die Strategie des Sprachvergleichs mit bereits erworbenen Sprachen zurückgegriffen wird und wenn sie sich in ihrer sprachlichen Identität wahrgenommen fühlen - wenn die Zweitsprache Deutsch nicht in Konkurrenz zu anderen Sprachen erlebt wird. Die Wahrung und Anerkennung der Sprachenrechte von MigrantInnen ist auch Ausdruck von Respektierung ihrer Identität (vgl. Krumm 2008).

Sprache/n und (nationale) Identität/en

Die sprachlichen Identitäten von MigrantInnen sind in der Regel sehr komplex. MigrantInnen werden Brizic 2007 zufolge spätestens durch ihre Migration mehrsprachig, bringen aber zumeist bereits mehrere Sprachen aus ihrer Sozialisation in den Herkunftsländern mit. Die sprachliche Situation von MigrantInnen ist durch sprachenpolitische Rahmenbedingungen im Herkunftsland ebenso bestimmt wie durch jene des Aufnahmelandes. Migration bedeutet für Individuen und Gruppen in der Regel Verlust von sprachlicher Souveränität. Das bedeutet, MigrantInnen erfahren Sprachlosigkeit und sprachlichen (wie auch gesellschaftlichen) Machtverlust. Die Unfähigkeit sich adäquat auszudrücken wird von Erwachsenen als einschränkend und verunsichernd empfunden. Durch die Migration finden in Familien Sprachwechsel statt, die innerhalb einer Generation den Verlust der Erstsprachen mit sich bringen können. Ist die Zweitsprache zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefestigt, kann das Nachteile für den Bildungserfolg der zweiten Generation mit sich bringen (Brizic 2007).


Individuelle Zugänge zur (eigenen) Mehrsprachigkeit sind immer auch geprägt von vorherrschenden sprachideologischen Vorstellungen. Diese geben Busch 2013 zufolge "Regeln" und Konventionen vor, auf denen Sprachverwendung basiert und die in der Migrationsgesellschaft meist gängige Machtverhältnisse spiegeln. Sprachen bzw. Sprachideologien wurden und werden dafür missbraucht, Differenz zu konstruieren und ethnische oder nationale Abgrenzung zu legitimieren und Machtpositionen zu definieren bzw. zu festigen. Die Beherrschung der "Staatssprache" wird von MigrantInnen unter Androhung von Sanktionen verlangt (siehe dazu auch Sprache und Integration/Partizipation); das Konstrukt des einsprachigen Nationalstaats wird von Mehrsprachigkeit bedroht dargestellt, anstatt diese als Realtität zu betrachten und zu fördern (Busch 2013).

Sprachliche Diversität in Institutionen und Erwachsenenbildung

Die Auseinandersetzung mit "diversity" bzw. das Diversitätsmanagement macht auch einen professionellen Umgang mit "linguistic/language diversity" in der Erwachsenenbildung notwendig. Ein großer Teil der Menschen in Österreich - MitarbeiterInnen und TeilnehmerInnen der EB - spricht mehrere Sprachen auf ganz unterschiedlichen Niveaus bzw. in ganz unterschiedlichen Kontexten. Nicht eine oder zwei Sprachen werden "perfekt" beherrscht oder auch nur "ausreichend" (um z.B. "einem Kurs folgen zu können). Angebote und Strukturen müssen sich dieser sprachlichen Diversität anpassen lernen um professionell darauf reagieren zu können. Dies hat Auswirkungen auf die Didaktik des Sprachenunterrichts, muss sich aber auch im "Fachunterricht", also in den gesamten Angeboten der allgemeinen und beruflichen Erwachsenenbildung niederschlagen.

 

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Weitere Informationen

Weiterführende Links

Literatur

  • Bausch, Karl-Richard et al. (Hg.) (2004): Mehrsprachigkeit im Fokus. Tübingen: Narr.
  • Brizic, Katharina (2007): Das geheime Leben der Sprachen. Gesprochene und verschwiegene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration. Münster: Waxmann.
  • Busch, Brigitta (2013): Mehrsprachigkeit. Wien: facultas.wuv.
  • de Cillia, Rudolf (2010): Sprache/n und Identität/en in Österreich. In: ÖDaF-Mitteilungen 1/2010: Vielfalt - Sprachen - Identitäten. Kontinuität und Veränderung im Kontext DaF/DaZ. Wien, S. 30-50.
  • Dorostkar, Niku (2011): Mehrdeutige Mehrsprachigkeit. Der österreichische Diskurs über Spache im sprachenpolitischen Diskurs. In: schulheft 143: Anders lesen lernen, S. 108-117.
  • Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. München: Langenscheidt.
  • Oksaar, Els (2003): Zweitspracherwerb. Wege zur Mehrsprachigkeit und zur Interkulturellen Verständigung. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Krumm, Hans-Jürgen (2008): Die Förderung der Muttersprachen von MigrantInnen als Bestandteil einer glaubwürdigen Mehrsprachigkeitspolitik in Österreich. In: ÖDaF-Mitteilungen 2/2008: Mehrsprachigkeit. Wien, S. 7-15.
  • Krumm, Hans-Jürgen (2009): Sprachenpolitik und Mehrsprachigkeit. Von der Mehrsprachigkeitsrhetorik zur (nicht mehr ganz so traurigen?) Realität. In: ÖDaF-Mitteilungen. Sonderheft zur IDT 2009: Visionen. Gegenwart und Zukunft von DaF/DaZ in Österreich, S. 6-15
  • Vielau, Axel (2003): Die aktuelle Methodendiskussion. In: Busch, Karl-Richard et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen und Basel: Francke UTB, S. 238-241.

 

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