"Vieles ist existenzieller geworden"

13.05.2016, Text: Bianca Friesenbichler, Redaktion/CONEDU
Im Rahmen der Fachtagung Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung Ende April am bifeb wurde diskutiert, womit Bildungs- und Berufsberatung aktuell konfrontiert ist und wie sie damit umgeht.
1. Keynote von Ronald Sultana, Universität Malta
Foto: (C) Ursula Bahr/kunstbahr
Von 28. bis 29. April 2016 fand die 4. Fachtagung Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung am Bundesinstitut für Erwachsenenbildung, kurz bifeb, statt. "In Diskussionen haben wir festgestellt, dass seit der 1. Tagung 2010 vieles 'existenzieller' geworden ist", begrüßte Ingeborg Melter vom bifeb die etwa 120 TeilnehmerInnen. Seien es die Auswirkungen von Globalisierung und Wirtschaftskrise, Veränderungen in der Arbeitswelt, die angespannte Situation am Arbeitsmarkt oder die Notlage vieler Menschen. 2016 wolle sich die Tagung daher mit der Frage auseinandersetzen: Womit sind wir aktuell konfrontiert und wie gehen wir damit um?

Diskussion, Austausch und Dialog fördern

Regina Barth, Leiterin der Abteilung Erwachsenenbildung im Bundesministerium für Bildung und Frauen, gab in ihrer Eröffnungsrede einen Überblick über die Beratungslandschaft in Österreich: 79 Institutionen seien aktuell in das Netzwerk Bildungsberatung Österreich involviert, so Barth. Diese Beratungslandschaft werde - wie viele Bereiche der Erwachsenenbildung - nicht vom Ministerium "regiert", sondern durch kooperative "Governance"-Prozesse gesteuert, so Barth weiter. Eine Tagung zur Bildungs- und Berufsberatung könne daher nicht nur Diskussion, Austausch und Dialog fördern, sondern auch die aktuelle Position der Bildungs- und Berufsberatung diskutieren - ganz im Sinne von Governance.

Ronald Sultana: Bildungs- und Berufsberatung in einer "flüchtigen Moderne"

Den inhaltlichen Auftakt machte Ronald Sultana, Professor für Soziologie an der Universität Malta, in seiner wortgewandten, bildhaften und zugleich sehr philosophischen Keynote in englischer Sprache. Seine These lautet: es gibt verschiedene Blickwinkel auf Bildungs- und Berufsberatung bzw. "career guicance" und je nach Kontext entsteht ein anderer Diskurs. Er konzentrierte sich insbesondere auf den Kontext der heutigen "verflüssigten" oder "flüchtigen" Moderne ("liquid modernity") im Gegensatz zur "soliden" Moderne ("solid modernity"), ein Ansatz des polnisch-britischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman.

Mit solider Moderne bezeichnet Bauman die Zeit nach der Industrialisierung. Macht und Politik waren damals eng miteinander verbunden, Machtverhältnisse waren klar, Langzeitplanung war möglich. Die flüchtige Moderne hingegen sei durch eine starke Individualisierung gekennzeichnet, in der Karriereplanung kaum mehr möglich ist.

"Carreer today is meaningless", so Sultana; das Leben sei heute ein Balanceakt zwischen Freiheit und Sicherheit. Wir wollen frei sein, nicht von Gott oder anderen Menschen beschützt und versklavt. Das geht allerdings auf Kosten der Sicherheit. So müssen heute Individuen vieles entscheiden und selbst verantworten, Denken und Handeln sind nur mehr sehr kurzfristig möglich. Staatliche Funktionen sind globalisiert und vermarktlicht, Macht und Politik getrennt, Wettbewerb ist wichtiger als Kooperation.

Was bedeutet das nun für die Bildungs- und Berufsberatung? Sultana dazu: "Career guidance has to be critical, contrastative, emancipatory and advocacy-based". (Bildungs- und Berufsberatung sollte kritisch, kontrastierend, emanzipatorisch und sich für die Beratenden einsetzend sein.)

Ursel Sickendiek: Diversität in der Beratung

Einem heute zentralen Orientierungsrahmen für die Bildungs- und Berufsberatung widmete sich die Beraterin und Forscherin Ursel Sickendiek von der Universität Bielefeld in der zweiten Keynote: der Diversität. Dieses ursprünglich eher Handlungs- denn Theoriekonzept fordert zur Wertschätzung sozialer und kultureller Unterschiede auf und veranschaulicht die Mehrdimensionalität von Diskriminierung.

Am Beispiel der Beratung Jugendlicher zeigte Sichendieck auf, was Diversität für die Beratung bedeuten kann: BeraterInnen sollten z.B. regelmäßig Zeit und Raum lassen, um auch Fragen sozialer Ungleichheit nachgehen zu können. Sie sollten auch nach bestehender und fehlender sozialer Unterstützung fragen, von den Erfahrungen der Jugendlichen ausgehen, sensibel sein für die Widerständigkeiten und den Eigensinn der Jugendlichen.

Peter Weber: Kompetenzen von BeraterInnen

Peter Weber von der Universität Heidelberg ging in der dritten Keynote auf Beratungskompetenz ein. Er berichtete von den Herausforderungen und den Ergebnissen eines NICE-Projektes (NICE = Network for Innovation in Career Guidance & Counselling in Europe), das auf die Entwicklung europäischer Kompetenzstandards für Bildungs- und BerufsberaterInnen zielte.

Wie BeraterInnen Beratung gestalten, darüber gäbe es laut Weber wenig empirisches Wissen. Er definierte verschiedene Rollen von BeraterInnen, für die sie unterschiedliche Kompetenzen benötigen. BeraterInnen seien etwa "ExpertInnen für Information und Diagnostik". In dieser Rolle unterstützen sie Menschen in der Beurteilung ihrer bildungs- berufs- und beschäftigungsrelevanten Ressourcen und Präferenzen. In der Rolle der "ManagerInnen beraterischer Dienstleistungen" wiederum liege die Kernkompetenz darin, die Qualität von Beratungsleistungen zu gewährleisten und die Beratungseinrichtung und das Beratungsangebot kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Von der Berufs- und Arbeitswelt 4.0 bis zur Traumakompetenz

Im Rahmen der Tagung gab es fünf Foren mit jeweils zwei Inputs und Diskussionen, die verschiedene Aspekte des Themas beleuchteten. Darüber hinaus konnten die TeilnehmerInnen in fünf Workshops konkrete Methoden und Ansätze kennenlernen und reflektieren - von der (Selbst-)Achtsamkeit im Beruf über die Konstruktion und Dekonstruktion von Berufsbildern bis hin zur Bildungs- und Berufsberatung mit Jugendlichen zwischen Widerstand und Kooperation. Die TeilnehmerInnen schätzten die "Vielfalt der Themen, den Austausch mit FachkollegInnen und den Mix aus Wissenschaft und Praxis" und beschrieben die zwei Tage als "sehr lehrreich", zitiert Melter aus den Rückmeldungen.

Suppengespräche sind Tradition geworden

Die Tagung endete mit angeregten Unterhaltungen, Gesprächen und Diskussionen bei einer bereits zur Tradition dieser Veranstaltung gewordenen gemeinsamen Suppe auf der Terrasse des Bürglhauses am bifeb. Veranstalterin Ingeborg Melter resümiert zufrieden: "Ich habe die Stimmung als sehr gut erlebt: lebendig, neugierig, vielfältig in den kommunikativen Beziehungen".

Ebenfalls zur Tradition geworden ist ein Tagungsband der im Zwei-Jahres-Rhythmus stattfindenden Veranstaltung. Dieser wird als Nachlese zur heurigen Tagung Ende des Jahres erscheinen. Die nächste Fachtagung "Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung" wird von 26. bis 27. April 2018 stattfinden.
Weitere Informationen:

 


  

Erstellung des Artikels gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und des Europäischen Sozialfonds.

 

CC BY ÖIBF/CONEDU, auf erwachsenenbildung.at 2016

Lizenziert unter CC BY http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Verwandte Artikel