Vom Wert der Wertekurse und der Haltung der Erwachsenenbildung

23.05.2016, Text: Thomas Fritz, lernraum.wien, Redaktion: Stefanie Günes-Herzog, lernraum.wien / Netzwerk MIKA
Österreich hat keine Leitkulturdebatte, Österreich hat Wertekurse. Hierzulande werden die Werte von Innenministerium und Außenminister in enger Zusammenarbeit vorgegeben. Ein Standpunkt. (Serie: Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft)
Wertediskurs im Spiegel (Foto: Stefanie Günes-Herzog)
"Die Bedrohung besteht in einer Störung des großen nationalen Narrativs"
Foto: Stefanie Günes-Herzog, lernraum.wien
Wie soll sich die Erwachsenenbildung im Kontext von nationalstaatlichen Werteordnungen und einem post-kolonialem Bildungsimperativ verhalten?

Im Zuge der Zuwanderung von einer großen Zahl von Menschen aus Syrien wurde die österreichische Skepsis den „Moslems“ gegenüber noch stärker als zuvor. Auch in der noch im Herbst bei weiten Teilen der Bevölkerung vorhandenen sehr positiven Stimmung den Geflüchteten gegenüber wurde eine „Wertefibel“ vom Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) erstellt, die den programmatischen Untertitel „Chancen und Regeln“ trägt.

Der Fibel liegt der Generalverdacht zugrunde, dass Menschen aus dem so genannten Islamischen Raum, dem Orient -  dessen Konstruktion durch die Europäische Wissenschaft und Politik Edward Said in seinem grundlegenden Werk Orientalismus (Said 2003, S. 938) darstellt und analysiert, und der ein Element des kolonialistischen Rechtfertigungsdiskurses im arabischen Raum darstellt - keine demokratischen Werte haben. Und, wenn sie gesellschaftliche Regeln haben, dann die falschen.

Ein kurzer Blick in die Materialien „Mein Leben in Österreich“ (BMEIA o.J.) eröffnet Einsichten in die angeblichen Werte, die hierzulande gelten. Im Folgenden soll aber nicht die Wertefibel analysiert, sondern die Position der Erwachsenenbildung einem solchen Programm (oder besser Pamphlet) gegenüber diskutiert werden.

Werte in leeren Worten


Im Vorwort zur „Wertebroschüre“ definiert Franz Wolf, der Geschäftsführer des ÖIF, Integration folgendermaßen:

a)    Dialogfähigkeit durch die deutsche Sprache
b)    Selbsterhaltungsfähigkeit durch Arbeit
c)    Akzeptanz der österreichischen  Rechs- und Werteordnung sowie
d)    Respekt für verschiedene Lebensweisen

Diese Definition von Integration setzt als erstes Deutschkennnisse als eine Voraussetzung von Integration voraus (ein Irrtum auf den Piet van Avermaet im März 2016 anlässlich eines Europaratssymposiums in Strasbourg aufmerksam machte: „language is not a prerequisite for integration but a result“).

 

Die Pflicht zur Arbeit steht – seit jeher – in enger Beziehung zum Recht auf Arbeit, was insbesondere bei Geflüchteten und Asylwerber*innen zynisch anmutet, denn die Pflicht haben sie sehr wohl, obzwar das Recht recht fraglich ist.

 

Punkt c) verweist einerseits im ersten Teil des Zitats auf die Verfassung und das bürgerliche Recht, kann angenommen werden, der zweite Teil jedoch wirft die Frage auf, wo sich denn diese „Werteordnung“ befindet (das World Wide Web kennt diesen Ort überraschenderweise nicht). Sie existieren anscheinend nur in Teilen des öffentlichen Diskurses und vor allem in der Wertebroschüre des ÖIF. Das bedeutet, dass diese wesentliche, das Zusammenleben bestimmende taxative und ultimative Aufzählung allen Österreicher*innen nicht zugänglich ist, da sie sich ja nicht zu den „Zielgruppen“ des ÖIF zählen und daher  die Broschüre sicherlich nicht gelesen haben werden, sie adressiert nur die Geflüchteten.

 

Der Punkt d) zum Respekt für verschiedene Lebensweisen trifft – wie die Lektüre der Broschüre zeigt – auf  (West)europäische Lebensweisen zu, anderen werden ethische Grundlagen grosso modo abgesprochen.

Die unbekannte Bedrohung


Warum wird auf eine unbekannte Bedrohung mit einer Lernunterlage reagiert und was ist diese Bedrohung? Die Bedrohung besteht aus einer Störung des großen nationalen Narrativs, das neben der Staatssprache, dem Territorium und dem Volk seit dem 19. Jahrhundert die bestimmenden Elemente eines Nationalstaates ausmachen (siehe dazu vor allem Hobsbawm 2010, S. 940).

Der konservative, französische Philosoph Alain Finkielkraut stellt in einem Interview mit der Wochenzeitung Der Freitag im Jänner 2016 (4/28 Januar 2016) fest: “wir verlassen die Syntax der nationalen Erzählung für die Parataxe der permanenten Aktualität”. Die Sicherheit der Syntax, die genau regelt in welcher Reihenfolge und Beziehung Wörter zueinander in einem Satzgefüge zugeordnet werden, wird verlassen für etwas, das der DUDEN parátaxi, also das Nebeneinanderstellen, ohne Ordnung und Präferenzen nennt. Also eine Art der Beliebigkeit, die keine Ordnung mehr anerkennt und alles gleichwertig nebeneinander stellt.

Eine Lösung, die Syntax des nationalen Narrativs zu retten scheint eben eine Wertebroschüre, und später, wenn es zutrifft, eine Staatsbürgerschaftsprüfung, die wiederum Sprache und Kulturelles Wissen abprüft.


Die Positionierung der Erwachsenenbildung ist entscheidend


Wie versteht sich die Erwachsenenbildung in diesem Zusammenhang? Als kritische Instanz, die dazu beiträgt eine an Diversität orientierte Debatte zu Haltungen und der Schimäre „Integration“ zu führen. Oder als Transmissionsmaschine der politischen Instanzen, die sich zur Verfügung stellt die konstruierten „österreichischen“ Werte zu verordnen.

Drei Beispiele seine hier genannt, die dazu dienen können, eine Antwort zu finden:

Im Leitbild der VHS Wien lesen wir zum Beispiel: Wir verwirklichen unsere Vision ... Wir treten für eine offene und sozial gerechte Gesellschaft ein – es muss Bildungschancen für alle Menschen geben, durch die sie ihre Potenziale voll entfalten und aktiv an der Gesellschaft teilhaben können. Wir leisten damit einen wichtigen Beitrag für die Lebensqualität und das Zusammenleben aller Wienerinnen und Wiener und treten gegen Diskriminierung und Ausgrenzung auf.


Das bifeb präsentiert folgende Position: Gesellschaftlicher und bildungspolitischer Auftrag:
Das Bundesinstitut für Erwachsenenbildung (bifeb) versteht sich als Ort für partizipative und kollaborative Erwachsenenbildung. Das bifeb selbst ist eine lernende und gestaltende Institution. Unsere Haltung ist antidiskriminierend, antirassistisch, integrativ, die Inklusion fördernd und Barrieren abbauend.

In der Basisbildung wird großer „Wert“ auf Haltungen (BMBF Fachgruppe Basisbildung, 2014) gelegt und es gibt gegenüber den offiziellen, tradierten Werten eine skeptische Haltung. Die kritische Überprüfung des Entstehens von Wissen und seiner Funktion ist eines der grundlegenden Prinzipien der Initiative Erwachsenenbildung.

Nehmen wir diese drei Positionierungen stellvertretend für die österreichische Erwachsenenbildung so ergibt sich folgende Antwort:

Selbst in der oft zitierten aufklärerischen Funktion der Erwachsenenbildung ist ein einfaches Weitergeben von folkloristisch, traditionellen Verhaltensmustern, die zum nationalen Wertesystem hochstilisiert werden nicht angebracht.


Eine kritische Erwachsenenbildung kann dies keinesfalls gutheißen und umsetzen, sondern muss in einen kritischen Diskurs mit allen Beteiligten treten, um die so genannten Werte und ihr Gültigkeit zu hinterfragen; eine große Aufgabe  für die Erwachsenenbildung, eine Herausforderung und eine Chance.

Serie: Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft
Integrationskurse und Spracherwerb mögen ein Anfang sein. Doch wenn es um den sozialen Wandel geht, der mit Zuwanderung verbunden ist, sind die Menschen mit Migrationserfahrung nur eine der Zielgruppen von Erwachsenenbildung. Die Anforderungen der Migrationsgesellschaft betreffen uns alle. Fragen nach Teilhabe, Verständigung und Zusammenleben stellen sich immer wieder neu. Wie Erwachsenenbildung diese Anforderungen beschreibt, reflektiert und deutet, und welche Angebote für Lernen und Bildung sie ihnen entgegen bringt, ist Gegenstand einer Serie von Artikeln auf erwachsenenbildung.at. Alle Beiträge in der Serie finden Sie hier.

 
Weitere Informationen:

 

Literatur:

BMBF Fachgruppe Basisbildung, 2014: Prinzipien und Richtlinien für Basisbildungsangebote. Für Lernangebote im Rahmen der Initiative Erwachsenenbildung, Wien

Der Freitag 4/28 Januar 2016

Europa, Integration, Äusseres, Bundesministerium Republik Österreich (o.J.): Mein Leben in Österreich Chancen und Regeln. Lernunterlage zum WERTE- UND ORIENTIERUNGSKURS. Wien.
   
Hobsbawm, E. J. (2010): Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality. Cambridge, Canto.
   
Said, E. W. (2003): Orientalism. London, Penguin.

 

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