Leitlinien für die Erwachsenenbildung […]: On the Road

21.04.2016, Text: Anna Head, bifeb
Wie kann es gelingen die „Leitlinien für die Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft“ umzusetzen?
Die Leitlinien als Anstoß für Kooperation, Austausch, neue Stragetien uvm
Foto: Marika Hammerer
Die „Leitlinien für die Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft“ stellen eine Selbstverpflichtung dar, mit der die UnterstützerInnen sich für eine antidiskriminatorische Politik und eine diversitätsorientierte, rassismuskritische Haltung in ihrem jeweiligen beruflichen Umfeld als ErwachsenenbildnerIn einsetzen. Bei der Tagung „Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft. Leitlinien on the Road.“ am Bundesinstitut für Erwachsenenbildung stellten wir uns der Frage, wie die Umsetzung der Leitlinien gelingen kann und beschäftigten uns mit strategischen, theoretischen aber vor allem auch praktischen Herausforderungen.

 

Genau hinschauen

 

Auch das Bildungswesen ist kein rassismusfreier Raum, allerdings wird diese Thematik hier häufig tabuisiert. Annette Sprung (Universität Graz) stellte die Frage in den Raum, wie Rassismuskritik und Antidiskriminierung als Querschnittsaufgabe der Erwachsenenbildung angenommen und implementiert werden kann. Die aktuelle Situation ist geprägt durch Demokratiegefährdung, den Abbau von Hemmschwellen und einen salonfähigen Rassismus als Legitimation für Diskriminierungen und Ausgrenzungen. Das festigt und reproduziert Machtverhältnisse. Die Institutionen haben die Verantwortung, genau hinzuschauen:

 

  • Welche Rolle hat die Erwachsenenbildung im Rahmen eines Migrationsregimes?
  • Auf welche Standards beziehen wir uns?
  • Was geben wir in unseren Kursen, Aus- und Weiterbildungen weiter?
  • Welche Diskriminierungseffekte (re)produzieren Bildungseinrichtungen selbst?

 

Die Erwachsenenbildung hat die Verantwortung, sich selbst kritisch zu hinterfragen: wenn Menschen mit Migrationsbiographie beim Zugang zu Arbeitsplätzen in der EB diskriminiert werden, z. B. durch unreflektierte Sprachnormen; wenn das Thema Rassismus und Diskriminierung in die Politische Bildung abgeschoben wird; wenn die Rahmenbedingungen einen reflexiven Habitus, pädagogische Professionalisierung und ein politisches Selbstverständnis der MitarbeiterInnen nicht ermöglichen/fördern usw.

 

Verbündetsein

 

Dirk Eilers, Theaterpädagoge und Social-Justice-Trainer, bezieht sich auf Alter, Gender, kulturelle Herkunft (sowie viele andere Kategorien, die Teil unserer Identität sind), die mit ihnen verbundenen Diskriminierungsformen (Ageism, Sexismus/Homo/Transphobie, Rassismus, …) sowie ihre Wechselwirkungen. Er stellte den Ansatz der Social Justice vor, einer partizipativen Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit. Dabei geht es darum, sich in einem solidarischen Kontext zu bewegen, andere mitzudenken Diversität und Gleichheit müssen berücksichtigt werden:

 

  • Wo stehe ich, von wo aus spreche ich wenn es um soziale Ungerechtigkeit geht?
  • Wo/in welcher Gruppe habe ich Privilegien und kann/möchte ich sie im Sinne des Power Sharing für andere nutzen? 

 

Auf gesellschaftlicher Ebene heißt Social Justice, aktive Teilhabe zu ermöglichen. Macht- und Herrschaftsverhältnisse sollen analysiert und in Frage gestellt werden können. Social Justice tritt für die Idee des Verbündetseins ein, wo die Anliegen der Anderen eigene Anliegen werden.

 

Geht es um die Umsetzung in der eigenen Organisation, kann diese Auseinandersetzung mit der Frage „Was will und was kann ich tun?“ bedeuten, Verhältnisse in Frage zu stellen, eine Haltung zu entwickeln, sich dem (Gegen)Wind auszusetzen; und gleichzeitig die Grenzen der eigenen Handlungsmacht, der Ressourcen und dahinterliegende Motivationen im Blick zu haben.

 

Das Politische in uns (wieder) entdecken

 

Die Herausforderung, das „Wollen“ und das „Können“ gut zusammenzubringen, greift Ilkim Erdost  (VHS Ottakring) auf. Sie beschäftigte sich und uns mit einem Dilemma, dem Einrichtungen der Erwachsenenbildung ausgesetzt sind: einerseits gesellschaftliche und strukturelle Benachteiligung aufbrechen zu wollen und sich andererseits herrschenden Normen aussetzen zu müssen.

 

Denn aktuelle Herausforderungen wie hohe Arbeitslosigkeit, sinkende öffentliche Ausgaben, starke politische Polarisierung und sozialer Druck werden sich nicht ändern.

 

  • Wie können wir unsere Systeme und Strukturen wappnen und stabilisieren, auch unabhängig von Personen, Ressourcen und trotz Mangel an politischer Unterstützung?
  • Wie können MitarbeiterInnen im politischen Kampf der Organisation um ein gutes Leben für alle partizipieren?
  • Wie kann man einander stärken und Veränderungsprozesse vorantreiben?

 

Es geht darum, das Politische nicht der Politik zu überlassen, sondern es in uns (wieder) zu aktivieren und zu artikulieren. Geschützte Räume für alle bereitstellen, die sonst keine haben. Für die VHS Ottakring bedeutet es, ihr Grundprinzip – Bildung und Teilhabe allen zu ermöglichen – mit Leben zu füllen und diesem Anspruch gerecht zu werden. Aber wie?

 

Erdost teilte mit uns ihre Zugänge als Leiterin der VHS Ottakring: Strukturen müssen so bereitgestellt werden, dass MitarbeiterInnen ihre Rolle (er)kennen und danach handeln können. Das kann beispielsweise bedeuten: Besprechungsstrukturen zu schaffen, die eigenverantwortliches Nachdenken und Ergebnisorientierung fördern. Kommunikationsstrukturen zu fördern, die ermutigen sich aktiv(er) einzubringen. Strategisches Personalmanagement, um die Werte und das Leitbild einer Organisation lebendig und überlebensfähig zu machen. Tragfähige Entscheidungen, die aus Gruppensettings entstehen, zu unterstützen. Gleichzeitig einen realistischen Blick darauf zu richten, was versprochen und ermöglicht werden kann. Schließlich geht es darum, Widersprüche auszuhalten, sie anzusprechen und ihnen zu begegnen.

 

Bewegen, ändern, anpassen

 

Trotz der Forderung „Bildung für alle“ werden durch unsere Angebote immer nur ganz bestimmte Gruppen angesprochen. Diese Angebote sind wiederum bestimmt durch Vorannahmen über die jeweiligen Zielgruppen. Thomas Fritz (lernraum.wien) hinterfragte das Thema „Angebote der EB in der Migrationsgesellschaft“ und bot einen Einblick in den Zugang der VHS Wien auf der Suche nach Orientierung. Im Zeitraum 2009 und 2010 wurden vom lernraum.wien gemeinsam mit dem Zentrum für Soziale Innovation (ZSI) drei Untersuchungen durchgeführt. In Summe wurden bei den Erhebungen 2009/2010 die Angaben von 1.827 Personen ausgewertet, darunter KursteilnehmerInnen, DirektorInnen, pädagogische MitarbeiterInnen und MitarbeiterInnen weiterer Funktionsgruppen. Anhand dieser Daten diskutierte Fritz folgendes Ergebnis:

 

  • Wir können nicht davon ausgehen, dass Personen mit Migrationshintergrund eine homogene Gruppe darstellen.

 

Es schadet keinesfalls, die eigenen Vorstellungen von Gruppen zu reflektieren und mit den tatsächlichen Interessen der Menschen abzugleichen. Denn oft sprechen wir mit unserem Angebot nicht die an, die wir anzusprechen meinen. Manchmal gibt es die gar nicht, die wir als „Zielgruppe“ definiert haben. Und vor allem gibt es meistens Lücken.

 

Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung war, dass es im Normalbetrieb wenig bis keine Unterschiede zwischen Menschen „mit“ und Menschen „ohne Migrationshintergrund“ gibt. Welche speziellen Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund machen dann Sinn, oder machen sie gar keinen Sinn? Zentral ist, dass Kategorisierungen in sich nicht stimmig sind und wir durch Schubladen keine Unterschiedlichkeiten produzieren sollten, die so eben nicht gegeben sind.

 

Also, was tun? Die klassische EB muss sich bewegen, ändern, anpassen und integrieren: Re-Orientierung ist gefragt. Eine outreach-Strategie bietet eine Chance in der Verunsicherung - andere Lernorte, niederschwellige Angebote für bestimmte Gruppen, speziell geschulte KursleiterInnen, … Der Fokus liegt auf Dialog und gemeinsamer Entwicklung.

 

Die Leitlinien „ernst“ nehmen

 

Was bedeutet es nun, die Leitlinien „ernst“ zu nehmen? Wie werden die Leitlinien umgesetzt? Wie können sie überhaupt umgesetzt werden? Diesen Fragen gingen Christian Ocenasek (IG Asyl & Bildung) und Helmut Peissl (COMMIT) bei einem Kamingespräch anhand ihrer eigenen ersten Erfahrungen mit den Leitlinien in der Praxis nach.

 

Unser Fazit nach drei Tagen: Es ist ein offener - manchmal zäher -  Prozess bei dem es darum geht, Flagge zu zeigen, die eigene Stimme einzusetzen und die Beschäftigung mit dem Thema Migration nicht nur der Politik und den Medienschlagzeilen zu überlassen. Es geht um Kooperation, Austausch, neue Strategien und Ansatzpunkte, eine breite Vernetzung und darum, das Politische wiederzufinden. Die Leitlinien können hier ein Anstoß sein.

 


Hier können Sie die Leitlinien nachlesen, unterzeichnen, verbreiten und ihre Umsetzung unterstützen.

 

Der Anstoß für die Erarbeitung von „Leitlinien für die Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft“ entstand im Rahmen des Projekts mig2eb (Angehörige der 2. Generation von Migrant_innen als Fachkräfte in der Erwachsenenbildung) im April 2014. Nach Ende des Projekts übernahm das Bundesinstitut für Erwachsenenbildung (bifeb) als vormals strategischer Partner die weitere inhaltliche und organisatorische Planung.


 

Serie: Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft
Integrationskurse und Spracherwerb mögen ein Anfang sein. Doch wenn es um den sozialen Wandel geht, der mit Zuwanderung verbunden ist, sind die Menschen mit Migrationserfahrung nur eine der Zielgruppen von Erwachsenenbildung. Die Anforderungen der Migrationsgesellschaft betreffen uns alle. Fragen nach Teilhabe, Verständigung und Zusammenleben stellen sich immer wieder neu. Wie Erwachsenenbildung diese Anforderungen beschreibt, reflektiert und deutet, und welche Angebote für Lernen und Bildung sie ihnen entgegen bringt, ist Gegenstand einer Serie von Artikeln auf erwachsenenbildung.at. Alle Beiträge in der Serie finden Sie hier.

Weitere Informationen:

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