"Wenn sie nicht immer denken würden: Fehler, Fehler Fehler!"

03.12.2015, Text: Bianca Friesenbichler, Redaktion/CONEDU
Die Basisbildnerin erster Stunde Sonja Muckenhuber wurde diese Woche zur "Erwachsenenbildnerin 2015" gekürt. Das ausführliche Interview mit der Preisträgerin.
Sonja Muckenhuber - Foto: BKA/Hofer
v.l.n.r.: BM G. Heinisch-Hosek, S. Muckenhuber, A. Heilinger
Foto: BKA/Hofer
Sonja Muckenhuber, Gründerin und Leiterin von B!LL - Institut  für Bildungsentwicklung Linz, wurde mit dem Österreichischen Staatspreis für Erwachsenenbildung in der Kategorie "ErwachsenenbildnerIn 2015" ausgezeichnet. Im ausführlichen Preisträgerinneninterview mit Bianca Friesenbichler erzählt sie von der Entwicklung der Basisbildung in Österreich, an der sie von Beginn an maßgeblich beteiligt war.

 

Bianca Friesenbichler: Am 1. Dezember wurdest du als "ErwachsenenbildnerIn 2015" ausgezeichnet. In der Laudatio im Rahmen der Preisverleihung wurdest du als "Basisbildnerin erster Stunde" in Österreich bezeichnet. Kannst du ein wenig von den Anfangsstunden der Basisbildung in Österreich und deinem Zugang zu dieser Thematik erzählen?


Sonja Muckenhuber: Anfang der 1990er Jahre war in meinem Soziologie-Studium Paulo Freire und seine Alphabetisierungskampagnen eines der zentralen Themen. Parallel dazu gab es erste, noch ganz leise Meldungen, dass das auch in westeuropäischen Ländern ein Thema sein könnte. Damit gewann diese Thematik für mich an Spannung.


Ich habe an der Volkshochschule Linz verschiedene Kurse geleitet und kam so gemeinsam mit zwei KollegInnen auf die Idee, den Freire'schen Ansatz an der Volkshochschule auszuprobieren. Wir haben Diskussionszirkel veranstaltet und ausgehend vom Spracherfahrungsansatz mit den TeilnehmerInnen gearbeitet. (Anm.: Der Spracherfahrungsansatz ist ein offenes Konzept für den Anfangsunterricht in Lesen und Schreiben, das von den Erfahrungen der TeilnehmerInnen ausgeht.) Und das hat ganz gut funktioniert, was uns auch die Rückmeldungen der TeilnehmerInnen zeigten.


Anfangs hatten wir nur wenige TeilnehmerInnen, etwa fünf pro Kurs. Zum einen hatten wir damals noch wenig Ahnung von Öffentlichkeitsarbeit, zum anderen wurden Basisbildungsbedarfe in Österreich kaum thematisiert. So hat Österreich auch an der OECD-Studie von 1989 zum Thema "Analphabetismus" - der heute als diskriminierend geltende Begriff war damals noch in Verwendung - nicht teilgenommen, weil man der Meinung war, dass es so etwas in Österreich ohnehin nicht gibt. Auf Basis der Daten aus Deutschland und anderen industrialisierten Ländern wurden nach Erscheinen der Studie Schätzungen für Österreich unternommen. 300.000 Betroffene hat man damals für Österreich geschätzt.


So stellte sich schon bald die Frage, wie wir die Menschen erreichen, die solche Kurse brauchen. In dieser Zeit habe ich die Basisbildnerin Antje Doberer-Bey kennen gelernt. Sie hat von ihren Anfängen in der Basisbildung an der Volkshochschule Floridsdorf erzählt. Damit hat ein sehr befruchtender Austausch begonnen. Auch Brigitte Bauer, Basisbildnerin in Salzburg und Otto Rath, Basisbildner in Graz, haben sich an diesem Austausch beteiligt.


So haben wir Ende der 1990er Jahre das Netzwerk Alphabetisierung gegründet. Wir haben uns damals über Vieles ausgetauscht, das heute noch in Diskussion ist: Der Umgang mit Begrifflichkeiten, eine wertschätzende, nicht diskriminierende Kommunikation usw. Aus dem anfangs nur mit geringen und ausschließlich nationalen Mitteln geförderten Netzwerk Alphabetisierung wurde das Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, gefördert im Rahmen der europäischen Initiative EQUAL, später dann Entwicklungspartnerschaften und Projektverbünde, die aus Mitteln des ESF und des Bildungsministeriums gefördert wurden.

 

Was waren damals eure Ziele und inwieweit wurden sie erreicht?


Am Anfang hatten wir das Ziel: Es soll keine Menschen mit Basisbildungsbedarf mehr geben in Österreich. Das war sehr ambitioniert. Etwa zur selben Zeit, 2003, hat die UNESCO die Weltdekade zur Alphabetisierung ausgerufen und damit Basisbildung und Alphabetisierung mehr ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Am Ende dieser Dekade der Alphabetisierung 2013 war unser Ziel ein flächendeckendes Angebot. Und das gibt es ja eigentlich. Annähernd. Es gibt nicht für alle Kurse, aber es gibt ein flächendeckendes Angebot.


Und wie verlief der weitere Weg zu diesen Zielen? Gab es auch Irrwege?


Ich bin viele Irrwege gegangen und meine KollegInnen aus meiner Sicht auch. Die Kurse waren bei uns immer sehr gemischt und das Niveau sehr unterschiedlich: Da waren TeilnehmerInnen mit Deutsch als Erstsprache, TeilnehmerInnen, die nicht selbstständig oder nicht nur selbstständig gelebt haben, TeilnehmerInnen, die gar nicht Deutsch konnten und TeilnehmerInnen, die schlecht Deutsch konnten.

 

Zwei Netzwerk-PartnerInnen hielten es damals für notwendig, sich auf Menschen mit Deutsch als Erstsprache bzw. jene, die in Österreich zur Schule gegangen sind, zu konzentrieren. Ich habe mich dieser Idee relativ widerwillig gefügt, weil es ja in Linz kein anderes Angebot für die Nicht-Deutsch-Sprechenden, die gleichzeitig auch nicht lesen und schreiben konnten, gab. Wir haben also versucht, auch gezielt diese Menschen zu erreichen, was auch gelang. Diese Erfahrung haben wir immer gemacht: Auf wen man sich in der Öffentlichkeitsarbeit konzentriert, das wirkt sich in den Kursen aus. 80% unserer KursteilnehmerInnen waren dann Menschen mit Deutsch als Erstsprache.


Und die, die nicht in Österreich zur Schule gingen, sind in diesem Moment herausgefallen?


Genau, die sind herausgefallen. Aber das hat sich schnell wieder geändert. Wir haben in der Volkshochschule neben den Projektverbünden um zusätzliche Förderungen beim Land Oberösterreich angesucht, weil ich wollte nicht die, die nur schlecht Deutsch sprechen, ausschließen und gleichzeitig wissen, dass es kein anderes Angebot für sie gibt. Und da haben wir dann Basisbildungskurse - da hieß es dann schon Basisbildung - für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen angeboten. Auch politisch wurde die Sinnhaftigkeit dieser Zielgruppen-Unterscheidung diskutiert und ist wieder aufgeweicht. Aber die Diskussion ist noch nicht zu Ende.

 

Wie ging es an der Volkshochschule weiter?


Das Basisbildungsangebot hat sich sehr gut entwickelt. Wir hatten anfangs - von den 1990er Jahren bis 2003 etwa fünf TeilnehmerInnen in den Kursen und haben die Zahl in den darauffolgenden sieben Jahren auf ca. 200 gesteigert, zusätzlich gab es auch noch Wartelisten. Und es war auch ein qualitatives Angebot. Das hat man an der Kommunikation mit den Teilnehmenden gemerkt und auch an der Nachhaltigkeit.

 

Wie ist es dann weitergegangen? Nach deiner Volkshochschulzeit?


Ich war zuletzt an der Volkshochschule nicht mehr im Training tätig und die Idealismen der ersten Stunden sind irgendwann nicht mehr umsetzbar: Es waren mehr MitarbeiterInnen nötig, wodurch der Austausch schwieriger wurde. Basisbildung bzw. Grundbildung wurde zu einem Regelkursangebot an der Volkshochschule Linz, was prinzipiell gut und wichtig wäre, damit wurde dieser Bereich aber stärker den VHS-internen Abläufen und Prozessen unterworfen. Die Freiheiten der Anfangszeit konnten wir nun nicht mehr leben. Im Vergleich zu den Anfangszeiten mussten wir große Abstriche in der Qualität machen. Fragen der Weiterentwicklung, Theorien und Diskussionen rund um Bildung - was und für wen Bildung ist, wie förderliche Rahmenbedingungen aussehen usw. - wurden zum Stiefkind und waren irgendwann gar nicht mehr erwünscht. Mit der steigenden Zahl von Kursen und TrainerInnen wurde eine pragmatischere Kursumsetzung forciert. Und das war mir zu wenig, darum bin ich dann von der Volkshochschule weggegangen.

 

War das die Uridee hinter B!LL - den bildungspolitischen Diskurs voranzutreiben?


Ja, aber auch die starke Ankoppelung an die Praxis durch persönliche Kontakte zu AnbieterInnen. Oder auch eine Praxis beispielsweise in der Beratung des Alphatelefons, die auch eine Schnittstelle zu Forschungsthemen, Forschungsinhalten hat, also nicht nur tut (im Sinne von berät), sondern sich auch anschaut: Warum, weshalb, welche Zusammenhänge gibt es usw. Das war in der VHS nicht mehr möglich, also nicht mehr erwünscht. Das erscheint mir aber sehr wichtig.


Das heißt, B!LL positioniert sich an der Schnittstelle zwischen Forschung, Praxis und Bildungspolitik?


Ja. Wir bieten Beratung durch das Alfa Telefon und die Website www.alphabetisierung.at, aber auch Weiterbildung für BasisbildnerInnen. Was wir nicht anbieten, sind Basisbildungskurse. Das wäre auch nicht gut, denn das Alfa Telefon und die Baratung sollten Anbieter-unabhängig erfolgen. Eine überregionale, überinstitutionelle Beratungsstelle sollte genau überlegen, welches Angebot für die TeilnehmerInnen am besten geeignet ist.

 

Du bist ja jetzt "Erwachsenenbildnerin 2015". Was würdest du von dir selbst sagen, ist das Besondere an deiner Arbeitsweise - was zeichnet dich aus?


Ich würde sagen, es ist mein grundsätzliches Interesse an den Menschen, meine absolute Werkschätzung eines jeden Gegenübers, und die spürt man, glaube ich. Ich habe das Gefühl, dass ich in Bezug auf Weiterbildung oft das richtige für andere anbiete oder mit anderen gemeinsam finde. Und ich habe ein ganz starkes inhaltliches Interesse. Ich arbeite sehr ungern, um Strukturen und  Hierarchien zu bedienen. So kann ich ganz stark auf das Inhaltliche und das Wesentliche fokussieren. Wahrscheinlich ist auch diese Mischung hilfreich, von einer soziologischen Theorie kommend in der Praxis der Erwachsenenbildung zu stehen.

 

Wo siehst du dich in den nächsten 10 Jahren?


Also ich werde heuer 61. Aber ich möchte an meiner Tätigkeit gar nichts ändern. Änderungen werden kommen, und sie sind dann auch sehr wertvoll. Aber ich sehe mich, sofern das meine Gesundheit erlaubt, in einer ähnlichen Situation wie jetzt: Das ich eine Arbeit mache, die vielfältig ist und die ich gerne mache. Und ich muss auch nicht in Pension gehen, solange ich eine Arbeit mache, die mir Spaß macht.

 

Und wenn du an die Zukunft der Basisbildung denkst: Was würdest du dir da wünschen? Wohin soll sie sich idealerweise entwickeln?


Ich glaube, dass wir momentan auf einem wirklich guten Weg sind. Die Prinzipien der Basisbildung, die wir als Fachgruppe Basisbildung formuliert haben, färben meines Erachtens auch nach außen ab: die Wertschätzung, das Akzeptieren aller anderen und das Reflektieren von anderen Meinungen und Wege und auch das Tolerieren. Gleichzeitig gilt es, die TeilnehmerInnen wirklich in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn das so bleibt, können wir es endlich wirklich schaffen - und das wünsche ich mir - dass Basisbildung ein ganz normales Angebot wird, dass die Schambehaftetheit der Basisbildung verschwindet.

 

Gleichzeitig wünsche ich mir, dass diese Überbetonung der deutschen Rechtschreibung und Grammatik, diese Beschämung, die damit verbunden ist, wenn man einen Fehler macht, irgendwann aufhört. Die neuen Medien tragen ja bereits ein wenig dazu bei, auch E-Mail und SMS. Auch an den Schulen sollte diesbezüglich die Liberalisierung fortschreiten. Das wäre eine Entwicklung, die mit Sicherheit weniger Basisbildungskurse notwendig macht, nämlich für die, die sich gut verständigen können und die sich noch viel besser verständigen könnten, wenn sie nicht immer denken würden Fehler, Fehler, Fehler…

 

Aus der Laudatio der Jury-Vorsitzenden Anneliese Heilinger:
"Ob wir gut leben und uns beteiligen können, hängt wesentlich auch davon ab, ob wir die Grundausstattung dazu haben. (…) Sonja Muckenhuber ist eine Drehscheibe für das Thema Basisbildung. Sie ist engagiert, kritisch, mutig, tatkräftig, unterstützend, nah an der Zielgruppe und nimmt doch die nötige Distanz ein und sie setzt sich für die Rechte der Zielgruppe ein."

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