Neuerscheinung: Kritisch-pragmatistische Lerntheorie

22.11.2013, Text: Neues Buch für Theoriebegeisterte, Redaktion: Bianca Friesenbichler, Redaktion/CONEDU
Peter Faulstich entwickelt eine Lerntheorie, die Verkürzungen und Einseitigkeiten anderer Konzepte überwinden soll, indem sie den Bildungsbegriff einbezieht.
Foto: (C) picspack.de/mikum
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Lernen ist zu einem Allerweltsbegriff geworden - mit Folgen: praktische Verwirrung und theoretische Verunklarung ergeben vielfältige Irritationen. Der deutsche Erziehungswissenschafter Peter Faulstich hält es daher für notwendig, einen angemessenen Lernbegriff zu entwickeln - keine aus der Praxis abgeleitete Theorie, sondern vielmehr einen Reflexionsrahmen, der begründetes Handeln in Lehr-Lernsituationen ermöglicht. Das kürzlich im transkript Verlag erschienene Buch richtet sich an ForscherInnen und TheoretikerInnen, die sich mit menschlichem Lernen auseinandersetzen.

Lernbegriff droht beliebig zu werden
Lernen sei zum Schlüsselbegriff in unserer Gesellschaft geworden, so Faulstich. Wo sich alles schnell und dynamisch verändert, solle mit Lernen darauf reagiert werden. Alle Individuen, Organisationen und gesellschaftlichen Systeme sollen nach herrschender Meinung dauernd und immer noch schneller, überall und immer wieder neu lernen. Aber auch informell werde immer und überall gelernt. Entsprechend viele und unterschiedliche Lerntheorien wurden entwickelt. Und entsprechend schwer falle es, sich in dieser Theorielandschaft zu orientieren. Faulstich zufolge drohe die Gefahr, dass der Lernbegriff beliebig werde und degeneriere.

Anforderungen an eine Lerntheorie
Bevor bestehende Lerntheorien gesichtet und beurteilt werden können, sei es nach Faulstich notwendig, die Anforderungen an eine Lerntheorie zu klären. Entlang dieser könnten die bestehenden Theorien in ihrer Reichweite und ihrem Stellenwert dann eingeschätzt und schließlich reinterpretiert werden. Die Theorien könnten so zueinander in Bezug gesetzt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt werden. Als Anforderungen an eine Lerntheorie definiert der Autor:

  • Konsistenz: ein engmaschiges Netz von Begriffen, die hinreichend geklärt und zusammenhängend sind
  • Komplexität: dem Gegenstand der Theorie angemessene Komplexität (keine unangemessenen Begrenzungen oder Vereinfachungen)
  • Angemessenheit: gesellschaftliche Tätigkeiten und das bewusste Handeln beschreibend (keine Beschreibung abstrakter Systeme)
  • Offenheit: offen, um die Freiheit menschlichen Handelns berücksichtigen zu können


Kritik an gängigen Lerntheorien
Im ersten Teil des Buches will Faulstich den Reflexionshorizont öffnen, indem er in der Philosophiegeschichte nach dem Lernbegriff sucht und Äußerungen von Kant, Fichte, Hegel, Marx, Dilthey und Husserl zum Lernen analysiert. Kapitel 2 versucht, den Lernbegriff zu klären - dies soll gelingen, indem Faulstich die Gemeinsamkeit verschiedener Arten des Lernens aufdeckt. Im dritten Kapitel stellt der Autor gängige wissenschaftliche Lerntheorien vor und analysiert sie hinsichtlich seiner Anforderungen an eine angemessene Lerntheorie kritisch. Es sind dies verhaltenswissenschaftliche Lerntheorien, der Kognitivismus, die Handlungsregulationstheorie, die konstruktivistische Lerntheorie und neurophysiologische Lernkonzepte.

Hermeneutische, pragmatistische und kritische Ansätze gefragt
Faulstich kritisiert an den bestehenden Lerntheorien v.a., dass sie reduktionistisch und zu abstrakt, also nicht kontextorientiert sind. Hermeneutische, pragmatistische und kritische Theorieansätze seien geeigneter, um Lernen zu beschreiben. Denn sie eröffnen schrittweise den Horizont der Perspektive von BeobachterInnen. Konkret beschreibt er in diesem vierten Kapitel phänomenologische Lerntheorien, die pragmatistische Lerntheorie, die subjektwissenschaftliche Lerntheorie und schließlich die kritisch-pragmatistische Lerntheorie.

Reinterpretation von Lerntheorien
Faulstich will die zuvor kritisierten Lerntheorien aber nicht einfach aufgeben, da diese aus seiner Sicht auch viele sinnvolle Teile enthalten. Anders angeordnet können sie durchaus hilfreich sein, um Lernen zu beschreiben. So versucht er in Kapitel 5, neue Strukturen und Eigenschaften dieser Theorien herauszubilden und sie zu reinterpretieren. Unter Einbeziehung einiger weiterer Theorien - etwa der "Tätigkeitstheorie" von Alexeji Nikolajewitsch Leontjew oder Pierre Bourdieus "Habituskonzept" - und Fragen zur Motivation beschreibt er in den letzten Kapiteln, wie Lernen theoretisch gefasst werden kann. Er beschreibt Lernvoraussetzungen und die Frage nach der Selbstbestimmung der lernenden Personen.

Lehre trotz neuer Lernkulturen nicht überflüssig
Nachdem er Lernen weit aufgespannt hat, brauche es aber auch ein angemessenes Konzept von Lehre, so Faulstich. Sie könne nicht darin bestehen, Wissen in die Köpfe anderer zu schütten; Lehrende sollten sich aber auch nicht als bloße AnimateurInnen oder "Facilitator" (LernprozessbegleiterInnen, ErmöglicherInnen von Selbstlernprozessen) sehen. Ihre Aufgabe sei vielmehr folgende: Lehrende helfen den Lernenden durch Vermittlung der Thematik mit ihren Problemen, Brüchen und folgenden Zweifeln.

Neue Aspekte für Theoriebegeisterte
Die Schriftenreihe "Theorie Bilden", in der das Buch erschienen ist, fokussiert auf erziehungswissenschaftliche Theorie - jenseits von Effizienz- und Verwertungsgeboten oder praktischen und technischen Nützlichkeitsanforderungen. Insofern bietet das vorliegende Buch für all jene, die an der theoretischen Fassung und Beschreibung von Lernen interessiert sind bzw. sich mit Lerntheorien bereits intensiver auseinandergesetzt haben, eine hilfreiche Zusammenschau. Dabei geht es nicht um praktische Anwendbarkeit. Sprachlich und inhaltlich setzt es viel voraus.

Faulstich, Peter (2013): Menschliches Lernen. Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie. Bielefeld: transcript Verlag (= Theorie Bilden, Band 30). 232 Seiten, ISBN 978-3-8376-2425-0, EUR 25,80.

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