Wissen vermitteln, Handeln anregen, Persönlichkeit bilden
Leben in der Postdemokratie
Die Wahlbeteiligung sinkt stetig; Protestparteien erwachsen aus der weit verbreiteten Enttäuschung mit den etablierten Parteien. Der britische Wissenschaftler Colin Crouch prägte für dieses und andere Phänomene den Begriff „Postdemokratie“. Drei Symptome beschreiben die Postdemokratie: Die Parteien orientieren sich hauptsächlich an der Wirtschaft und ihren HauptleistungsträgerInnen; Menschen mit wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen können sich weniger gut einbringen; und die einzelne Wahlstimme hat nur wenig Einfluss auf den tatsächlichen politischen Prozess. Crouch zufolge werden BürgerInnen in der Postdemokratie schnell frustriert, desillusioniert und politikverdrossen.
Um Demokratien tatsächlich demokratisch zu machen, müssen die BürgerInnen also wieder wissen, welche Partei oder welches Parteimitglied für spezifische Entscheidungen verantwortlich ist – der Zusammenhang zwischen Wahlstimme und politischem Handeln muss wieder hergestellt werden. Nur wenn Politik transparent und kontrollierbar ist, können wahlberechtigte BürgerInnen ihre demokratische Rolle aktiv wahrnehmen. Und nur wenn die Wahlbeteiligung hoch und gleichmäßig verteilt ist, können alle gesellschaftlichen Schichten angemessen politisch repräsentiert werden. Besonders wirtschaftlich und sozial Benachteiligt Menschen sind in Postdemokratien unterrepräsentiert. Weiterbildung dient für sie häufig dazu, (mehr) Teilhabe zu erlangen. Zu diesem Schluss kommen Christel Teiwes-Kügler und Jessica Vehse im Rahmen der Studie „Gesellschaftsbild und Weiterbildung“, nachzulesen im Journal für politische Bildung 3/2013.
Partizipatorische vs. gelenkte Demokratie
Geht es um gesellschaftliche Mitbestimmung innerhalb der Demokratie, dominieren zwei ideologische Positionen. Michael Vester präsentiert beide Ansätze, partizipatorische und gelenkte Demokratie, in einer kritischen Gegenüberstellung im Sammelband Politische Bildung zwischen Politisierung, Partizipation und politischem Lernen. VertreterInnen der „gelenkten Demokratie“ gehen davon aus, dass große Teile der Bevölkerung nicht „demokratie-reif“ seien – ob aufgrund von Intelligenz, Milieu, Habitus oder anderer Faktoren. Dementsprechend müsse Demokratie von „oben“ gesteuert werden, und zwar von Personen, die sowohl das Interesse als auch die Fähigkeiten hätten, dem Gemeinwohl zu dienen.
Dagegen bringen AnhängerInnen der partizipatorischen Demokratie an, dass es keine stichhaltigen Argumente gäbe, ganze Bevölkerungsschichten vom demokratischen Prozess auszuschließen. Prägend beschrieb der amerikanische Philosoph Arnold S. Kaufman diese Idee 1960. Die deutsche Version seines Essays eröffnet programmatisch den Band Politische Bildung zwischen Politisierung, Partizipation und politischem Lernen.
Die Verschränkung von Bildung und Politik
Christine Thon, deren Aufsatz ebenfalls Teil des Sammelbandes ist, glaubt, dass außerdem das Verhältnis von Bildung und Politik neu bestimmt werden müsse. Politische Bildung dürfe nicht bloß als Instrument gesehen werden, um Partizipation zu fördern und die demokratischen Staatsstrukturen zu stützen. Dies widerspreche der Idee humanistischer Bildung, die nicht interessengeleitet ist. Sie kritisiert, dass Bildung nach wie vor „als Distinktions- und Machtinstrument des Bürgertums“ funktioniere, um große Teile der Bevölkerung aufgrund niedrigerer Bildung von der politischen Teilhabe auszugrenzen. Mit der Forderung, dass Bildung die Persönlichkeit entwickeln solle, sei sie inhärent politisch. Thon zufolge sollte Bildung die Kraft aus den unterschiedlichen Machtverhältnissen nutzen, aber nicht den Anspruch stellen, die Machtpositionen auszugleichen. Denn erst durch Reibung entstünde Aktion und Artikulation und damit ein politisches Subjekt.
Politische Bildung im Wandel der Zeit
Thons Ansatz zeigt, dass nicht unumstritten ist, welche Aufgaben und Ziele (politische) Bildung hat. Klaus-Peter Hufer ergänzt, ebenfalls in Politische Bildung zwischen Politisierung, Partizipation und politischem Lernen, dass die politische Erwachsenenbildung seit 1945 stets auf gesellschaftspolitische, fachdidaktische und wirtschaftliche Trends reagiert hat. Ging es nach Ende des 2. Weltkrieges um „Umerziehung“ und „Sittlichkeit“, traten in den 1960ern „Aufklärung, Mündigkeit und Konfliktorientierung“ in den Fokus. Die 1980er sahen dagegen die „reflexive Wende“ – Erwachsenenbildung, auch im politischen Bereich, orientierte sich bewusster an subjektiven Erfahrungen und Lebenswelten. In den 1990ern begann der Trend zur Professionalisierung; (politische) Bildung wurde zur Kompetenz und zertifizierbar.
Ein Modell „radikaldemokratischer politischer Bildung“ für das 21. Jahrhundert entwickeln Frederick de Moll, Christian Kirschner, Markus Riefling und Margit Rodrian Pfennig. Es soll beispielsweise „Ausgeschlossene“ ansprechen und sichtbar machen, unterschiedlichste Formen von Diskriminierung in ihrer Vernetztheit zeigen, Selbstverständliches und Eindeutiges hinterfragen, Kritik an Machtbeziehungen und Normvorstellungen üben und Bildung in Aktivität münden lassen. Politische Bildung bedeutet nicht mehr, theoretisches Wissen über einen „Kern von Politik“ zu vermitteln, sondern zum Nachdenken anzuregen und neue Wege politischer Aktivität zu suchen. Viele Ansätze der AutorInnen decken sich mit Thons Forderungen; beide Aufsätze sind Teil des Sammelbandes.
Durch die soziologische Brille
Alle Beiträge des Sammelbandes sind „durch die soziologische Brille“ verfasst. Gerade von Seiten der Soziologie wird politische Bildung und Sozialisation häufig im Zusammenhang mit spezifischen Milieus untersucht. Viele WissenschaftlerInnen sehen einen Zusammenhang zwischen dem Milieu und der politischen Grundeinstellung einer Person. Verknüpft werden die beiden Bereiche durch die Habitus-Theorie des Soziologen Pierre Bourdieu. Die Grundidee lautet: Menschen in ähnlichen Lebenssituationen bilden ähnliche Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster aus und damit auch ähnliche (politische) Werte und Überzeugungen. Helmut Bremer und Jana Trumann reflektieren in Politische Bildung zwischen Politisierung, Partizipation und politischem Lernen Bourdieus Ansätze in Bezug auf politisches Lernen.
Journal für politische Bildung
Ausgabe 3 des Journals für politische Bildung verfolgt ähnliche Ansätze. Michael Görtler geht darin der Frage nach, wie politische Sozialisation und politische Bildung zusammenhängen. Für ihn ist politische Sozialisation ein Schlüssel zu Mündigkeit und Handlungsfähigkeit. Neben reinem Faktenwissen werden im Zuge der Sozialisation auch Werte, Normen und Verhaltensweisen ausgebildet.
Weitere Beiträge im Journal beleuchten historische (vor-)politische Bewegungen und deren Einfluss auf die Sozialisation ihrer TeilnehmerInnen. Paul Ciupke schreibt über die „skeptische Generation“ der Nachkriegsjahre und andere Jugendbewegungen; Morvarid Dehnavi untersucht die „Neue Frauenbewegung“; und Wiebke Riekmann analysiert deutsche Jugendverbände. Rainer Gries vollzieht den Schwenk in die Gegenwart, indem er den Boom der Protestparteien untersucht und daraus ableitet, vor welchen Herausforderungen politische Bildung im europäischen Kontext steht.
Ein Thema, zwei Publikationen, viele Meinungen
Viele Beiträge widmen sich der Frage, was politische Bildung überhaupt leisten kann, soll und darf, und nicht alle AutorInnen sind sich dabei einig. Das Spektrum der Meinungen und Fokuspunkte bereichert den Sammelband, der insgesamt stark soziologisch orientiert ist. Soziologische Ansätze prägen aber ebenso das Journal für politische Bildung. Beide Publikationen zusammen verdeutlichen die unterschiedlichen Rollen, die politische Bildung einnehmen kann und geben Denkanstöße, wie sie auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts antworten kann.
Helmut Bremer, Mark Kleemann-Göhring, Christel Teiwes-Kügler und Jana Trumann (Hgg) (2013): Politische Bildung zwischen Politisierung, Partizipation und politischem Lernen. Beiträge für eine soziologische Perspektive. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. 342 Seiten, kartoniert, ISBN-13: 9783779915898, EUR 39.95 EUR.
Politische Sozialisation. Journal für politische Bildung 3/2013.
Das Journal für politische Bildung richtet sich an Interessierte der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Die Zeitschrift ist eine Kommunikationsplattform zum Thema, sie greift wissenschaftliche Diskurse auf und berichtet aus der Praxis.
- Verlagsinfo Buch
- Verlagsinfo Journal
- Crouch: Postdemokratie
- Citizenship Education. Auf der Suche nach dem Politischen in der "Postdemokratie"
Magazin erwachsenenbildung.at, Ausgabe 11/2010 - Erler: Politische Bildung und der Nationale Qualifikationsrahmen
Magazin erwachsenenbildung.at, Ausgabe 14/2011 - Politische Bildung in nachdemokratischen Zeiten
Nachricht vom 30.11.2010