Kontroverses Buch zeigt Gefahren der neuen Medien auf

06.11.2012, Text: Adrian Zagler, Online-Redaktion
Manfred Spitzers Buch "Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen" geht mit den digitalen Medien hart ins Gericht.
Machen Computer, TV & Co uns langsam dümmer? Diese provokante These stellt Manfred Spitzer, Hirnforscher und Psychologe aus Ulm, jedenfalls auf. "Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen" heißt sein neues Buch, in dem er gegen die Verdummung durch die digitalen Medien wettert.

Schlagwort "digitale Demenz"
Unter "digitaler Demenz" versteht Spitzer einen Prozess des geistigen Abbaus. Symptome der klassischen Demenz - zeitliche, örtliche und personale Desorientierung - lassen sich ihm zufolge auch als Folgeerscheinung ausufernder Mediennutzung erkennen. Ein Beispiel: Navigationsgeräte sollten uns eigentlich bei der Orientierung helfen; de facto lassen sie jedoch den ureigenen Orientierungssinn verkümmern und uns blind auf die Technik vertrauen, so Spitzer. Der geistige Abbau sei nur deswegen noch nicht erkennbar, da unsere Ausgangssituation oft sehr gut sei - und wir damit eine große intellektuelle Fallhöhe hätten.

Die Gefahren der Mediennutzung
Spitzer warnt, dass vermehrte Beschäftigung mit den digitalen Medien auf lange Sicht unter anderem zu Stress, Verlust der Selbstkontrolle, Schlaflosigkeit, Depression, Vereinsamung und Sucht führe. Durch ständiges Multitasking könnten Störreize zudem schlechter ausgeblendet werden; gleichzeitig würde man sich nur mehr oberflächlich mit Informationen und Inhalten beschäftigen (z.B. Texte überfliegen statt lesen). Dadurch würden wir weniger lernen, aber mehr vergessen. Spitzer stellt auch einen Zusammenhang zwischen Alter, Häufigkeit des Medienkonsums und Bildungschancen her: Je früher Kinder per PC und TV lernen sollen, desto weniger lernen sie tatsächlich und desto schlechtere Chancen haben sie später.

Zweifelhafte Erkenntnisse
Spitzer zitiert in seinem Buch viele wissenschaftliche Studien und Forschungen aus Neurologie, Psychologie, Soziologie und anderen Feldern um die Schädlichkeit der digitalen Medien zu beweisen. Aber die Schlüsse, die er aus den Daten zieht, sind nicht immer eindeutig, sondern erscheinen vielmehr oft oberflächlich oder gar willkürlich - das monierten in den vergangenen Wochen bereits eine Reihe von KommentatorInnen. Beispielsweise führt er den vergrößerten Hippocampus von Londoner TaxifahrerInnen als Beweis für unseren Orientierungsverlust an. Wichtige Kontextfaktoren wie soziales Umfeld, Ernährung, Bewegung, Milieu und vieles mehr klammert der Hirnforscher zumeist aus seiner Betrachtung aus; Spitzer erklärt und versteht den Menschen von seinen Hirnstrukturen her. KritikerInnen seiner Thesen liefert Spitzer selbst damit viel argumentatives Kanonenfutter.

Populärwissenschaft
Spitzer schreibt leserfreundlich und unverschnörkelt, allerdings auch emotionalisierend, vereinfachend und verallgemeinernd. Auffällig ist sein Versuch, Angst und Unbehagen zu schüren. Floskeln wie "Geschäft mit dem Tod" oder "Mord ohne Motiv" spicken das Buch ebenso sehr wie die Appelle an das elterliche Gewissen: "Ich habe Kinder und möchte nicht, dass sie mir in zwanzig Jahren vorhalten: Papa, du wusstest das alles - und warum hast du dann nichts getan?" Das geht zuweilen zulasten Spitzers Glaubwürdigkeit - KritikerInnen sprechen von Populärwissenschaft. Fazit: Ein Buch, das sich zu lesen lohnt, um einen kritischen Blick auf den Medienhype zu gewinnen - aber keine wissenschaftliche Offenbarung.

Über den Autor:
Manfred Spitzer, geboren 1958, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie und habilitierte sich anschließend für das Fach Psychiatrie. Zweimal war er Gastprofessor an der Harvard University. Er leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Auf Bayern Alpha moderiert er wöchentlich die Sendereihe "Geist & Gehirn".


Spitzer, Manfred (2012): Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München: Droemer Verlag. ISBN: 978-3426276037, EUR 19,90.
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