Mittelschicht im Wandel

09.07.2012, Text: Philipp Gufler, Online-Redaktion
Gehen der Erwachsenenbildung die TeilnehmerInnen verloren? Veränderung in der Gesellschaft als Herausforderung.
TeilnehmerInnenforschung in der Erwachsenenbildung ist ein Thema, das seit Längerem ein fester Bestandteil im Marketingkonzept vieler Bildungsinstituten ist. Für manche wurde der Begriff des Marketings etwas zu hastig aus der Betriebswirtschaft übernommen und auf Standards der Erwachsenenbildung umgemünzt, da man dadurch die eigentliche Komplexität der Gesellschaft außer Acht lassen würde. Die Gesellschaft ist im stetigen Wandel begriffen und somit werden auch die Erwartungen und Ansprüche der Zielgruppen zusehends vielfältiger. Nichtsdestotrotz ist die Erreichbarkeit von spezifischen gesellschaftlichen Gruppierungen ein wichtiges Element für das Marketing in politischen, pädagogischen und ökonomischen Bereichen - man denke nur an die Diskussion um das Erreichen bildungsferner respektive bildungsbenachteiligter Gruppen.

Die Mittelschicht befindet sich im Wandel
Die stetige gesellschaftliche Veränderung lässt keinen Stein auf dem anderen. Die Verformung der Mittelschicht schreitet beharrlich voran. Definierte Milieus ändern sich, entwickeln neue Strukturen des gesellschaftlichen Miteinanders und fordern somit auch überarbeitete Marketingkonzepte. Vor allem die Zahl der BürgerInnen aus der unteren sozialen Schicht wachse durch die Verschiebung der Mittelschicht, so die These von Ulrike Herrmann, Autorin und Journalistin bei der taz. Das heißt für die Milieuforschung, dass die Vielfalt in der Unterschicht zunehmen wird. Eine Schicht, die für Erwachsenenbildungsmarketing ohnehin schon schwer erreichbar ist. Helmut Bremer, Professor am Institut für Berufs- und Weiterbildung an der Universität Duisburg Essen, und Rudolf Tippelt, Professor für Bildungsforschung an der Ludwig-Maximilian Universität in München, sehen besonders bei diesen Milieus das Desinteresse an Weiterbildung steigen. Folglich wird sich das Erreichen und Motivieren der Menschen für Institutionen der Erwachsenenbildung schwieriger gestalten. Diesbezüglich werden sich auch Bedingungen der Teilnehmererreichung von Bildungseinrichtungen wandeln, um ihre Klientel für Kurse, Lehrgänge und sonstige Bildungsangebote nicht zu verlieren.

Wandel bereits in österreichischen Einrichtungen angekommen
Dass Bildung ein Mittelschichtsprogramm ist, ist nicht neu. "Die Leistungen der Volkshochschulen wird traditionell vor allem von Menschen aus der Mittelschicht genutzt", hält auch Stefan Vater fest, pädagogisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter beim VÖV, dem Verband Österr. Volkshochschulen. Die österreichischen Volkshochschulen verzeichnen stagnierende bzw. leicht rückläufige Teilnehmerzahlen. Vater stellt fest, dass es im Besonderen Angebote im beruflich verwertbaren Kernbereich sind, die von einer sinkenden Nachfrage betroffen sind. Schrumpfende finanzielle Möglichkeiten, Unlust sich noch neben der stressigen Arbeit fortzubilden oder aber einfach fehlende zeitliche Ressourcen seien Motive der Mittelschicht, der Erwachsenenbildung fernzubleiben. Eine Zunahme konnte jedoch im Bereich Gesundheit und körperliche Bewegung beobachtet werden. Vater's These hierzu: "Die Leute benutzen solche Kurse als Abfederung für den stressigen, beruflichen Alltag."

Unter anderem veranlassten die stagnierenden bzw. rückläufigen Teilnehmerzahlen die Wiener Volkshochschulen ihr Angebotskonzept zu überarbeiten, so Stefan Vater. Man setze nun verstärkt darauf die Bedürfnisse der Zielgruppen genauer zu erfassen und den Personen klar dazustellen, was in dem Kurs geschieht und was er einem bringt - Kompetenz- und Lernergebnisorientierung lauten die Stichwörter. Zusätzliche angeboten werde eine intensivierte Bildungsberatung, damit man "die Leute dort abholt, wo sie sind", so Vater.

Milieuforschung soll Komplexität der Gesellschaft nachkommen
In der Theorie existieren mehrere Ansätze, um Zielgruppen zu definieren. Für Tippelt und Bremer ist es zu einfach, Menschen anhand sozidemografischen bzw. -ökonomischen Merkmalen spezifischen Gruppierungen zuzuordnen. Ihre Konzepte sind beide dem Feld der Milieuforschung zuzuschreiben, besitzen jedoch unterschiedliche Grundelemente. Tippelt benützt als Basis die vom Heidelberger Sinus-Institut entwickelte Milieulandkarte "Sociovision", um gesellschaftliche Gruppierungen zu definieren. Sein Konzept wurde bereits in einigen Studien erfolgreich angewandt. Hingegen leitet sich Bremers Milieuverständnis aus dem Habitusansatz von Pierre Bourdieu ab. Das Gemeinsame der Beiden ist die Einbeziehung der gesellschaftlichen Komplexität - nicht nur das Einkommen, sozialer Status und Bildungsabschluss wird zur Definition der Milieus herangezogen, sondern auch Werte, Handlungs- und Lebensweisen der Menschen.

Milieuforschung als Ausweg für hochdifferenzierte Pluralität?
Die Milieuforschung zeigt eine umfassendere Art sich diesem Problem zu nähern, als es die herkömmliche Einteilung der Gesellschaft anhand von sozioökonomischen bzw. -demografischen Merkmalen zulässt. Durch die gezielte Hinzunahme von Lebensstilen, Wertewandel und Erlebniszielen ist es möglich, auch eine hochdifferenzierte Vielfalt an bildungsfernen Gruppierungen als Zielgruppe zu benennen und anzusprechen. Adäquates Milieumarketing kann somit auf die möglicherweise anwachsende Diversität der Unterschicht reagieren. Resultat wäre zwar ein erhöhter Mehraufwand im Marketingbereich, jedoch zeigen die Projektbeispiele bei Tippelt, dass es durchaus von Erfolg gekrönt sein kann, Milieus einzeln anzusprechen.

"Gesellschaft ohne Mitte? Erwachsenenbildung ins Out!"
Wie das geht, und auf welcher Grundlage, ist auch Gegenstand des vierten "Zukunftsforums" der österreichischen Volkshochschulen, das augenblicklich in Kooperation mit dem Deutschen Volkshochschulverband in Bayern abgehalten wird. Vater dazu: "Es werden mindestens zehn Nationen an dem Thema mitdiskutieren und versuchen in zwei produktiven Tagen eventuelle Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten." Neben Ulrike Herrmann referiert auch der Mailänder Soziologe und Berater Sergio Bologna, der sich seit längerem dem Thema der Zerstörung der Mittelschicht widmet.   

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