Was heißt hier "kompetent"?

14.08.2012, Text: Adrian Zagler, Online-Redaktion
Was kompetenzorientierte Referenzrahmen für Sprachen können und was nicht, reflektieren ExpertInnen unterschiedlich. (Serie: Fremdsprachendidaktik heute, 3)
"Die Frage ist, ob auch immer Kompetenz drin ist, wo Kompetenz drauf steht", konstatiert Reinhard Zürcher. In seinem Artikel "Kompetenz - eine Annäherung in fünf Schritten" unterscheidet er den Kompetenzbegriff unter anderem von Qualifikation, Wissen und Fähigkeit. Zur Kompetenz stellt er fest, dass "praktisches Wissen" wichtiger ist als theoretisches, wodurch sich sowohl Lern- als auch Beurteilungssituationen verändern.

"Kompetenzorientierung wird gelegentlich auch mit Lernergebnisorientierung in Verbindung gebracht (obwohl diese nicht notwendigerweise daraus folgt). Das hat damit zu tun, dass Kompetenz ohne Performanz, also ohne die Demonstration der behaupteten Kenntnisse und Fähigkeiten, hypothetisch bleibt. Mit der Orientierung am Lernergebnis erweitert sich die Zahl der Wege, auf denen dieses erreicht wird." Viele Wege führen also nach Rom, wenn es um Fremsprachenkompetenz geht, weswegen es auch Bestrebungen zur Standardisierung der Kompetenzmessung gibt.

Europäische Standards
Zwischen 1989 und 1996 erarbeiteten ExpertInnen im Auftrag des Europarats den "Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen" (GER). Herzstück des Referenzrahmens sind sechs Kompetenzstufen der Sprachbeherrschung, von elementarer Sprachverwendung (A1) bis zu (nahezu) muttersprachlicher Sprachbeherrschung (C2). Eine jede der sechs Stufen wird durch allgemeine und spezifische Kompetenzen in den vier Bereichen Hören, Lesen, Schreiben und Sprechen beschrieben. Eine Sprecherin der Kompetenzstufe B1 kann zum Beispiel "die meisten Situationen bewältigen, denen man auf Reisen im Sprachgebiet begegnet" und "die Hauptpunkte verstehen, wenn klare Standardsprache verwendet wird und wenn es um vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. geht".

Kontext-abhängig
Der GER unterscheidet zwischen vier groben Anwendungsgebieten von Fremdsprachen: im Schul- und Ausbildungsbereich, im Beruf, in der Öffentlichkeit und privat. In der Tat ist der Kontext der primären Sprachnutzung sehr entscheidend für die tatsächliche Kompetenz. Wer beruflich vor allem E-mails schreiben muss, wird Schreiben in der Fachsprache besser erlernen wollen als Hörverständnis. Es ist nicht undenkbar, dass so jemand ausgezeichnete Geschäftsanbote in der Fremdsprache verfassen kann, aber nur rudimentäre Gespräche führen kann. Daraus folgt, dass der GER nicht als starrer Rahmen, sondern vielmehr als Landkarte verstanden werden muss, mit dessen Hilfe man sich in der weiten Sprachlandschaft orientieren und zurechtfinden kann. In der Praxis lassen sich Lernende nicht einfach in ein Schema pressen und als B1 titulieren; vielmehr werden ihre Kompetenzen manchmal von A2 im einen Bereich bis hin zu B2 in einer anderen Situation reichen.

Für und wider Kompetenzstandards
Standardisierungsmaßnahmen wie der Europäische Referenzrahmen tragen dazu bei, Kompetenzen überprüfbar und nachweisbar zu machen, sowohl für die Lernenden und Lehrenden, als auch für Außenstehende. Die Art und Weise wie diese Kompetenzen formuliert und gruppiert sind, bedeutet jedoch gleichzeitig, dass diese Kompetenzen bereits interpretiert, selektiert, und hierarchisiert wurden. Einige Kompetenzen sind wichtiger als andere, manche werden gar nicht erst abgefragt oder überhaupt nicht wahrgenommen. Aus diesem Grund bezeichnet Zürcher Kompetenzbewertung auch als "Machtfrage". Weiters stellt er fest: "Bezüglich der Entwicklung von Kompetenzen ist keineswegs gesichert, dass sich über kompetenz-basiertes Training die Fähigkeiten eines Menschen am besten entfalten". Es ist also fraglich, inwieweit sich die Lehre überhaupt an Kompetenzen orientieren sollte. Thomas Fritz von den Wiener Volkshochschulen verteidigt das Kompetenzmodell als nützlich, wenngleich auch hier noch Änderungsbedarf besteht: "Der Komplex der interkulturellen Dimension hat sich geöffnet und ändert sich gerade massiv, da es hier eine politische und philosophische Diskussion gibt." Wichtig sei, so glaubt auch Universitätslehrende Ulla Fürstenberg, den GER als Leitrahmen zu begreifen, anstatt als absolutes und starres Modell.

Stimmen aus der Praxis
Fürstenberg, die selbst jahrelang als Englischtrainerin am Internationalen Sprachenzentrum (ISZ) in Graz beschäftigt war, hält den Referenzrahmen insgesamt für eine gute Sache. Sein großer Nachteil sei jedoch, dass es auf den höheren Stufen immer länger dauere, ins nächsthöhere Level aufzurücken. Lässt sich der Sprung von A1 auf A2 noch innerhalb von zwei Kursen bewältigen, braucht es von B1 auf B2 bereits deutlich länger. "Den Menschen lassen sich aber nicht so viele Sprachkurse auf dem gleichen Level verkaufen, sie wollen Fortschritte sehen", meint Fürstenberg. Somit rücken teilweise Lernende in höhere Kurse auf, ohne diesen wirklich bereits gewachsen zu sein. "Wenn jemand kommt und sagt, er will B2 besuchen, dann kann man ihm freundlich nahelegen, dass er dort noch nicht ist, aber natürlich besucht der den Kurs dann weiter. Das heißt, es gibt eine Diskrepanz zwischen den Deskriptoren, die doch relativ detailliert sind, und dem, wie sie verwendet werden." Fürstenberg definiert Sprachkompetenz daher etwas abweichend: "Sprachkompetenz ist, wenn man die Elemente einer Sprache kennt, die man braucht und diese einsetzen kann". Das heißt, auch wenn die theoretischen Kompetenzbeschreibungen genereller und umfassender gehalten sind, passen die Lernenden diese in der Praxis auf ihre individuellen Bedürfnisse an.
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Serie: Fremdsprachendidaktik heute