AutorIn statt AnalphabetIn

19.03.2012, Text: Adrian Zagler, Online-Redaktion
Ein Schreibwettbewerb und ein Buchprojekt für AnalphabetInnen verdeutlichen den Motivationswert des literarischen Schreibens in der Basisbildung.
Wer schreiben kann, hat mehr zu sagen. Auf dieser Überzeugung fußen zwei Projekte, die das literarische Schreiben im Zuge der Basisbildung fördern wollen. Es handelt sich dabei um das von der VHS Linz herausgegebene Buch "schriftlos heißt nicht sprachlos" und den Schreibwettbewerb des deutschen Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V. (alfa). Sowohl die VHS Linz als auch alfa möchten vom Analphabetismus Betroffene dazu motivieren, Schreiben zu lernen, um das eigene Selbstwertgefühl zu stärken und mehr Freude am Lernen zu entdecken. Denn laut einer Studie der Innovative Sozialprojekte GmbH (ISOP) sind ein niedriger Selbstwert und mangelnde Motivation Haupthindernisse in Sachen (Weiter-)Bildung. Und weiter: Bildungsdefizite wirkten sich negativ auf die psycho-soziale Gesundheit aus.

Freude am Lernen durch Freude am Schreiben: Zwei Fallbeispiele
Wie motivierend literarisches Schreiben für TeilnehmerInnen an Basisbildungskursen sein kann, weiß Josefina aus eigener Erfahrung. Die Grazerin mit mexikanischen Wurzeln gewann im letzten Jahr den Publikumspreis beim alfa-Schreibwettbewerb für Lernende in Alphabetisierungskursen. Unter 119 Einsendungen zum Thema "Das gefällt mir" wurde ihr Text über Musik ausgewählt. Auch heuer findet der Wettbewerb wieder statt: Bis zum 15. Juli können BesucherInnen von Alphabetisierungskursen Texte zum Thema "Unterwegs" einreichen und mit einem Foto bereichern. Mit der Aktion will alfa AnalphabetInnen Spaß am Schreiben vermitteln. Ein ähnliches Ziel verfolgt Thomas Baum: 2011 gab er das Buch "schriftlos heißt nicht sprachlos" heraus. Es ist eine Sammlung von Texten der AnalphabetInnen und LegasthenikerInnen, die einen Basisbildungskurs bei der VHS Linz besuchten. Die AutorInnen setzen sich darin mit ihrer Vergangenheit auseinander und zelebrieren die neu gefundene Freude am Schreiben. Das Buch ist über die Homepage der VHS Linz erhältlich.

Der Mensch ist ein "story-telling animal"
Wie wichtig es ist, Menschen zum Schreiben zu animieren, weiß Evelyn Brandt, Schreibpädagogin und Schreibberaterin: "Schreiben ist ein Therapeutikum. Es ist ein Medium, das bis in die innersten Räume eines Menschen ausstrahlt, Lern- und Denkprozesse anregt, das Selbstbewusstsein stärkt und Seele, Körper und Geist guttut." Das gilt für BesucherInnen von literarischen Schreibwerkstätten ebenso wie für Menschen mit Schreibschwäche. TeilnehmerInnen von Alphabetisierungskursen lernen zum ersten Mal sich schriftlich auszudrücken und mitzuteilen. Damit eröffnen sich ihnen neue Möglichkeiten, ihr Kommunikationsbedürfnis zu befrieden. Evelyn Brandts Erzählung legt folgenden Schluss nahe: Wer schreiben kann, kann Geschichten erzählen - ob autobiographisch, literarisch oder kreativ. Und wer etwas zu erzählen hat und es auch erzählen kann, fühlt sich gut.

Analphabetismus führt zu psychischen Belastungen
Wer nicht schreiben, lesen oder einen Verkaufsautomaten bedienen kann, ist im täglichen Leben stark eingeschränkt. Die Website "gesundheit.de" listet einige der Folgen von sogenanntem "funktionalem Analphabetismus" auf: Betroffene fühlten sich häufiger und schneller gestresst und überfordert, neigten zu psychischen und physischen Erkrankungen. Gleichzeitig seien sie oft kreativ in der Entwicklung von Umgehungsstrategien. Eine Leseschwäche könne zum Beispiel mit der Behauptung "Ich habe meine Lesebrille vergessen" effektiv getarnt werden. Dennoch führe funktionaler Analphabetismus bei den Betroffenen oft zu psychischen Belastungen und Isolation, wie eine ISOP-Untersuchung zeigt. Aus Angst hielten sie ihr Defizit geheim, denn Analphabetismus sei ein gesellschaftliches Tabu, berichtet die Studie.

Negative Lernerfahrungen und niedriges Selbstwertgefühl hemmen
Beschäftigte im Bereich der Basisbildung kennen die Schwierigkeiten, die eigentliche Zielgruppe überhaupt zu erreichen. Umso wichtiger sei es, Betroffenen den Einstieg durch "niederschwellige Basisbildungsangebote" zu erleichtern, so Erwachsenenbildnerin Christine Teuschler. Wer nicht lesen und schreiben könne, tue sich auch beim Einholen von Informationen schwer. Dazu kämen die inneren Blockaden, die Betroffene davon abhielten, Alphabetisierungskurse zu besuchen. Teuschler listet als hemmende Faktoren negative Lernerfahrungen, negative Selbstbilder und Stigmatisierung auf. Aber auch wenn mit der Kursanmeldung die erste Hürde geschafft sei, lauerten weitere Schwierigkeiten auf dem Weg zur Alphabetisierung. PädagogInnen in Basisbildungskursen müssten besonderes psychologisches Geschick beweisen und mit ihren Schützlingen gemeinsam Blockaden durchbrechen, Ängste bekämpfen und Selbstwertgefühl aufbauen, aber auch Konzentrieren und Lernen lehren.

Basisbildung = empowerment
Um den Lernenden die Angst und die Frustration zu nehmen ist wichtig, dass sie immer den Nutzen ihrer Strapazen vor Augen haben. Das kann die Aussicht sein, endlich den Führerschein machen zu können, reisen zu können, Arbeit zu finden - oder den eigenen Kindern bei ihren Hausaufgaben helfen zu können. Ein Nebeneffekt der Basisbildung ist einer ISOP-Studie zufolge die subjektive und objektive Gesundheit und Zufriedenheit der Lernenden zu steigern. Wer lesen und schreiben lernt, könne außerdem am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und anfangen es mitzugestalten, sich gebraucht, gewollt und einzigartig fühlen.
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