Studie zu Analphabetismus liefert erste Ergebnisse

01.04.2011, Text: Bianca Friesenbichler u. Wilfried Hackl, Redaktion/CONEDU
Deutsche Studie geht von 7,5 Mio funktionalen AnalphabetInnen in Deutschland aus. In Österreich fehlen vergleichbare Zahlen bisher.
Das Forschungsprojekt "leo. - Level-One Studie" untersucht unter Leitung der Hamburger Professorin Anke Grotlüschen den Grad der Literalität der Deutsch sprechenden Bevölkerung in Deutschland. Dabei wurde auf Personen fokussiert, die auf den unteren Kompetenzniveaus lesen und schreiben. Wir befragten Monika Kastner, assoziierte Professorin für Erziehungswissenschaft und Expertin für Basisbildung und Alphabetisierung am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Universität Klagenfurt hinsichtlich der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Österreich.

Analphabetismus, funktionaler Analphabetismus und fehlerhaftes Schreiben: Viele Betroffene
Für mehr als 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Deutschlands (18-64 Jahre) hat die leo- Studie funktionalen Analphabetismus diagnostiziert, das sind 7,5 Mio Menschen. Weitere 13 Millionen Menschen (25%) schreiben trotz gebräuchlichen Wortschatzes fehlerhaft. Dies betrifft vor allem die Rechtschreibung. Analphabetismus im engeren Sinne betrifft mehr als 4 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung.

"Die Frage nach der Übertragbarkeit dieser deutschen Ergebnisse auf Österreich darf wohl wegen der grundlegenden Ähnlichkeit der Bildungssysteme bejaht werden. Aktuelle und vor allem empirisch abgesicherte Zahlen für Österreich gibt es aber nicht", so Kastner. Die österreichische Basisbildungsszene habe sich auch bisher schon an den deutschen Schätzungen und internationalen Studien zur Einschätzung der Größenordnung in unserem Land orientiert. Die Ergebnisse der Level-One Studie - mit 7,5 Millionen funktionale AnalphabetInnen -  lägen allerdings viel höher als die bisher geltende Schätzung des deutschen Bundesverbandes für Alphabetisierung und Grundbildung, die von 4 Mio Betroffenen ausgegangen war.

Handlungsbedarf bei Prävention und adäquater Förderung
Monika Kastner, die selbst im Vorjahr eine Habilitationsschrift über Bildungsbenachteiligung und Basisbildung vorgelegt hatte, sieht Handlungsbedarfe für Österreich vorwiegend in zwei Bereichen: "Zunächst muss die Aufgabe der Prävention endlich in Angriff genommen werden. Bildungsbenachteiligung und das Entstehen von Basisbildungsbedarfen müssen frühzeitig verhindert werden, hier ist das vorschulische und schulische Bildungssystem gefordert."

Darüber hinaus sei nach Kastners Ansicht die Bereitstellung entsprechender Fördermittel für Einrichtungen unerlässlich, die über langjährige Erfahrung und Kompetenzentwicklung in der Bildungsarbeit mit bildungsbenachteiligten Erwachsenen mit Basisbildungsbedarfen/-bedürfnissen verfügen und daher wüssten, wie die Zielgruppe erreicht werden kann und wie die Bildungsarbeit gestaltet sein muss. Erforderlich seien maßgeschneiderte, kostenlose Bildungsangebote für Betroffene, ohne zu enge zeitliche Limitierung, in guter räumlicher und zeitlicher Erreichbarkeit und mit angemessen bezahlten KursleiterInnen.

Diese Forderungen decken sich zumindest in einigen Aspekten mit dem Regierungsprogramm von 2008, in dem das kostenfreie Nachholen von Bildungsabschlüssen bereits angepeilt wurde. Eine Gruppe von Bund, Ländern, Sozialpartnern und ExpertInnen ist in diesem Zusammenhang seit längerem damit betraut, eine "Initiative zur Förderung grundlegender Bildungsabschlüsse für Erwachsene inklusive Basisbildung/Grundkompetenzen" vorzubereiten. Diese wurde im Vorjahr bereits der Fachöffentlichkeit vorgestellt und soll aus Mitteln von Bund und Ländern finanziert werden.

Analphabetismus und Funktionaler Analphabetismus
Von Funktionalem Analphabetismus wird im Rahmen der leo-Studie dann gesprochen, wenn eine Person zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben kann, nicht jedoch zusammenhängende - auch kürzere - Texte. Die Betroffenen sind der Studie zufolge nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben. Als Beispiel führen die AutorInnen misslungenes Lesen schriftlicher Arbeitsanweisungen auch bei einfachen Beschäftigungen an.

Analphabetismus im engeren Sinne besteht, wenn eine Person zwar einzelne Wörter lesend verstehen bzw. schreiben kann, nicht jedoch ganze Sätze. Zudem müssen die Betroffenen auch gebräuchliche Wörter Buchstabe für Buchstabe zusammensetzen. Monika Kastner dazu: "Klar ist, dass man Analphabetismus operationalisieren muss, um das Phänomen empirisch fassbar zu machen. Die Definition soll aber keine Defizitperspektive zementieren. Die betroffenen Menschen haben immer auch eine Reihe von Ressourcen und Fähigkeiten, die man vor allem in der konkreten Bildungsarbeit nicht aus den Augen verlieren sollte." 

leo. - Level-One Studie
Die "leo. – Level-One Studie" ist ein Zusatzmodul der Adult Education Survey (AES). Sie untersucht den Grad der Literalität der Deutsch sprechenden Bevölkerung in Deutschland und fokussiert dabei auf den unteren Level, d.h. auf Personen, die auf den unteren Kompetenzniveaus lesen und schreiben. Die Kompetenzbereiche Lesen und Schreiben sind in insgesamt sechs "Alpha-Levels" unterteilt.

Die Alpha-Levels 1 bis 3 gehen davon aus, dass nur vereinzelte, auswendig gelernte Worte im Gedächtnis als Wortbild eingetragen sind bzw. nur gebrächliche, einfache Worte geschrieben werden können. Ab Alpha-Level 4 steigt die Anzahl der ins Gedächtnis eingetragenen Worte und bis Level 6 sollte der gesamte beherrschte Wortschatz eingetragen sein, nur fremde Begriffe müssen konstruiert werden. "Funktionaler Analphabetismus" liegt auf den Alpha-Levels 1 bis 3, "Analphabetismus" im engeren Sinne auf 1 bis 2. Level 4 bedeutet Fehlerhaftes Schreiben trotz gebräuchlichen Wortschatzes und betrifft vor allem die Rechtschreibung.
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