Soziale Arbeit und Erwachsenenbildung im Gespräch

24.09.2010, Text: Christina Pernsteiner, Online-Redaktion
Ein Interview mit Christian Ocenasek und Karl Hofinger über die Anfang Oktober stattfindende Gemeinwesentagung 2010.
Gemeinwesenarbeit (GWA) als partizipatives und interdisziplinäres Prinzip zielt darauf ab, gemeinsam mit den Menschen vor Ort in Stadt bzw. Gemeinde nachhaltige Verbesserungen ihrer Lebenssituation zu erreichen. Das Bundesinstitut für Erwachsenenbildung - bifeb) veranstaltet von 4. bis 6. Oktober 2010 die diesjährige  Gemeinwesentagung unter dem Titel "Soziale Arbeit und Erwachsenenbildung im Dialog - agieren, intervenieren, gestalten". Es wird der Frage nachgegangen, wie die Gestaltung der Lebenswelten durch beide Disziplinen demokratisch, sozial verträglich und nachhaltig erfolgen kann.

Vorab führte erwachsenenbildung.at Interviews mit dem Erwachsenenbildner und Supervisor Christian Ocenasek vom Bundesinstitut für Erwachsenenbildung und dem Sozialarbeiter, Psychologen und Supervisor Karl Hofinger, der unter anderem in der Gemeindebegleitung tätig ist.

Welche Spannungsfelder nehmen Sie zwischen Sozialer Arbeit und Erwachsenenbildung wahr?

Hofinger:
"Zwischen" Sozialer Arbeit und Erwachsenenbildung sehe ich die "BürgerInnen" in ihrer Rollenvielfalt, als KlientInnen und Lernende. Die Herausforderung wird sein, hier wieder einen synergetischen Umgang miteinander zu gestalten und den wechselseitigen "Nutzen" organisatorisch, strukturell und inhaltlich sowohl theoretisch als auch in der praktischen Umsetzung zu thematisieren.

Ocenasek: Ich sehe zwischen Sozialer Arbeit und Erwachsenenbildung eigentlich keine Spannungsfelder. Wir sind beide bemüht unseren Beitrag zu leisten für ein gelungenes Zusammenleben in unserer Gesellschaft und wir haben dabei unterschiedliche Aufgaben. Bei der Erwachsenenbildung steht das Lernen des Individuums im Mittelpunkt, bei der sozialen Arbeit die Unterstützung bei der Gestaltung und Bewältigung der Lebenswelten. Aber beides wirkt wechselseitig. Die individuellen Lernergebnisse haben Auswirkungen auf die Lebenswelten und die Gestaltung der Lebenswelten bringen Lernergebnisse mit sich. Wenn die beiden Berufe zusammenarbeiten – im Bewusstsein der unterschiedlichen Aufträge – so kann ich darin nur sehr förderliche Synergien entdecken.

Welche Ziele verbinden Erwachsenenbildung und Soziale Arbeit?

Ocenasek: Erwachsenenbildung und Soziale Arbeit sind an einer demokratischen und sozialen Gesellschaft interessiert. Beide Berufe arbeiten in den Spannungsfeldern der persönlichen Lebensgeschichten. Ich bin überzeugt, dass durch Kooperation die Impulse für eine verbesserte Lebensqualität verstärkt werden.

Hofinger: Ich denke, dass es die Autonomie des Menschen und eine selbständige Wahrnehmung von gesellschaftlichen Lebensbedingungen sind. In diesem Sinne geht es meiner Meinung nach auch um ein politisches Bewusstsein. Der Weg (als Ziel?) führt an einem umfassenden Bildungsverständnis nicht vorbei.


Welche Aufgaben ergeben sich daraus für die Erwachsenenbildung, Herr Ocenasek?

Ocenasek: Lernen soll so ermöglicht werden, dass das Erlernte in einen größeren Zusammenhang gestellt werden kann. Die Eigenverantwortlichkeit muss gefördert werden. Wissen und Fertigkeiten werden durch den kritisch-reflektierten Umgang zur Kompetenz.  


Und welche Aufgaben ergeben sich daraus für die Soziale Arbeit, Herr Hofinger?

Hofinger:  In Bezug auf diese "Querverbindung" sehe ich drei Aspekte. Erstens die Stärkung der Sozialen Arbeit als Bildungsinstanz, was bedeutet, dass wir als SozialarbeiterInnen unsere pädagogischen Zugänge ausbauen sollten. Zweitens geht es um die Stärkung der Sozialen Arbeit in ihrer politischen Kompetenz, die kritisch auf die Lebensbedingungen achtet und sich dort in der Veränderung einbringt anstatt in der Regulierungsmächtigkeit (von Politik und Verwaltung) unterzugehen. Und drittens ist es Aufgabe, Angebot zu schaffen, die für Menschen und Kommunen als Alternativen der Veränderung gesehen werden, zum Beispiel Regionale Entwicklungsprogramme.

Ein Grundprinzip der Gemeinwesenarbeit ist, dass Problematiken wie etwa Armut nur gemeinsam mit den Betroffenen - Stichwort "Hilfe zur Selbsthilfe und Selbstorganisation" - bekämpft werden können. Welche Bedeutung hat dieser Ansatz heute?

Ocenasek: Diese Frage hat mit dem Weltbild zu tun. Ich sehe mich als Humanisten, der sozial und nicht wohltätig sein will. Hilfe ist für mich ein großes Ausgleichsgeschehen in sozialen Systemen, das auf gleicher Augenhöhe passieren soll. Es darf Hilfesuchende nicht entwürdigen, die Helfenden nicht überhöhen. Wenn ich es als Gesamtsystem betrachte, bin ich da provokant, wenn es um Wohltätigkeit geht. Ich glaube, dass die Helfenden von ihrem Klientel oft mehr bekommen als sie geben – und daher viel dazu beitragen, dass sie ihr Klientel in der „Hilfsbedürftigkeit“ belassen. Das lässt den Helfenden ihre Macht und sichert deren Existenz. Das ist die psychologiesierende Sicht. Als Gesellschaft tragen wir viel dazu bei, dass die Armen ihre Armut nicht  überwinden können.

Hofinger: Die (politischen) Ansätze zur Bürgergesellschaft und das Bewusstsein für Partizipation haben sich aus meiner Erfahrung  in den vergangenen Jahren verstärkt, wenngleich kritisch anzumerken ist, dass dies zur Zeit eher ein Phänomen der "Mittelschicht" darstellt. Echtes Bemühen um Aktivierung sozialer Rand-und Betroffenengruppen zur Selbsthilfe und Selbstorganisation ist hauptsächlich in kleineren Projekten erkennbar.
 
Welche Rolle spielt das Thema Gemeinwesenarbeit am bifeb)?

Ocenasek:  Kontinuierlich war und ist am bifeb) die Frage, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt ein Thema. Überwiegend wurden bei der GWA Good Practice Beispiele dargestellt, wie sich Initiativen Sozialraum ergreifen und unser Zusammenleben bunter, vielfältiger und demokratischer gestalten. Die Erkenntnisse aus der GWA-Reihe fließen in unsere Programmplanung ein und inspirieren uns dort, wo wir in Gremien an der Entwicklung der Erwachsenenbildungslandschaft mitwirken. Das GWA-Seminar ist zwar nur drei Tage am bifeb) präsent, aber das Thema ist ein Dauerbrenner.


Mit welchen Themen befassen Sie sich im speziellen bei der GWA-Tagung?

Ocenasek: „Die Mächtigen im Ort, wenn sie wüssten was sie tun“ ist der Workshop, den ich betreue. Es gibt so viele Etablierte in Schulen, Pfarrgemeinden, Vereinen, öffentlichen Einrichtungen etc. Die tun viel Gutes. Sie geben Orientierung, vermitteln Zugehörigkeit. Sie geben Struktur – aber sie signalisieren auch was gerne gesehen wird und was nicht. Jetzt gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten mit der Andersartigkeit umzugehen. Entweder die Norm wird verteidigt und alles Andersartige ausgegrenzt. Vom aggressiven „Ausländer raus“ bis hin zur strukturellen Benachteiligung von Gruppen (Frauen, AlleinerzieherInnen, MigrantInnen..) finden sich alle Spielarten. Oder aber die Mächtigen erkunden die Frage: „Was können wir aus der Andersartigkeit lernen? Ist diese Andersartigkeit vielleicht sogar eine Reaktion auf das etablierte Verhalten? Ich wünsche mir, dass Macht mit dieser (Selbst)Reflexionsfähigkeit verknüpft wäre. Dies ist die Basis für integrative Lebenskonzepte.

Hofinger: Die Initiative zur Annäherung von Gemeinwesenarbeit und Erwachsenenbildung - mit dem Ergebnis, dass nun diese Tagung möglich wurde - ging sehr wesentlich von mir aus. Daher befasse ich mich mit der "Begegnung der Disziplinen", mit erlebbaren und fühlbaren Prozessen, die als Indizien für mögliche Zukunftsszenarien zu sehen sind. Zum Beispiel: Verlieren diese auf  Emanzipation ausgerichteten Zugänge wie Sozialarbeit und Erwachsenenbildung ihre Klientel aus den Augen und verlieren sich in Methoden- und Theoriediskussionen? Oder: welche Möglichkeiten eröffnen sich durch die Annäherung für ein verändertes Verständnis von Sozialer Arbeit?
  Ich sehe die lokalen, kommunalen und regionalen Strukturen im Spannungsfeld der politischen und wirtschaftlichen Machbarkeit, aus der heraus ein Agieren und Intervenieren neue Ansätze und Verantwortlichkeiten braucht. "Die Mächtigen im Ort, wenn sie wüssten, was sie tun..." soll hier Impulse aufzeigen und gleichzeitig zur Redelegation der Verantwortung an die BürgerInnen ermutigen; gleichzeitig müssen BürgerInnen neu lernen, diese Eigenverantwortung mit Rechten und Pflichten zu übernehmen. Der Wandel der Gemeinwesenarbeit, seine aktuelle Dimension - in der oftmals nicht die Sozialarbeit(erInnen) die entscheidende Rolle spielen - führt dazu, dass die Sozialarbeit sich im guten Sinne eingliedern kann und soll in das Konzert der Veränderung von Lebensbedingungen.


Christian Ocenasek
Jg. 1960, verheiratet, ein bis vier Kinder, hat Landschaftsökologie und -gestaltung studiert und Fortbildungen zum systemischen Berater und Supervisor absolviert. Er arbeitet seit 1996 am bifeb) und ist dort unter anderem für das sogenannte "Kooperative System der Erwachsenenbildung" zuständig.

Karl Hofinger
Jg. 1957, verheiratet, drei Kinder, arbeitet freiberuflich/selbstständig als Psychotherapeut, Supervisor und in der Gemeindebegleitung (Agenda 21, Dorf- und Stadterneuerung, Leader). Er ist Lehrbeauftragter für Gemeinwesenarbeit an der FH Linz.
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