Solidarität in der Erwachsenenbildung. Ene mene muh ...

01.06.2017, Text: Anna Head und Cornelia Primschitz, bifeb, Redaktion: Anna Head, bifeb
… und nachlesen kannst du! Nachbericht zur Tagung „… und raus bist DU!? Solidarität in der Erwachsenenbildung“. (Serie: Solidarität, Teilhabe und Ermächtigung)
Plattform für Diskurs, Vernetzung und Veränderung
CC-BY 4.0/ Karin Bonvecchio, karbon fotografie/ bifeb_solidaritaet2017_tisch/ auf www.bifeb.at
Die Tagung „... und raus bist DU!? Solidarität in der Erwachsenenbildung" stellte einen (Frei)Raum dar, um sich auf Orientierungssuche in Wissenschaft und Praxis zu begeben. Gemeinsam mit Expert_innen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz diskutierten wir „Solidarität", ihre Verbundenheit, Eingewobenheit und auch ihre Gegensätzlichkeiten zur (Erwachsenen)Bildung kritisch. Wo stehe ich selbst, wo steht Bildung im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Ausgrenzung? Es ging darum, Verantwortung zu übernehmen, eigene Privilegien zu erkennen und Entwicklungen zu ermöglichen. Wir sehen dies auch als eine zentrale Aufgabe der Erwachsenenbildung: Forum und Plattform für Diskurs, Vernetzung und Veränderung zu sein.

 

Solidarität als Lebensform

 

Die Kritische Bildungstheoretikerin Eva Borst (Universität Mainz) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der Bedeutung einer kritischen Erwachsenenbildung in unsicheren Zeiten.

 

Borst definiert Solidarität als eine soziale Beziehung, die auf der Anerkennung des Gegenübers beruht. Begleiten sollte uns dabei immer die reflexive Frage, Wann ich mit Wem Wie Warum solidarisch bin und sein kann. Solidarität sei eine Fähigkeit, die gegen Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung einen Beitrag zur Menschenrechtskultur leistet und der Verminderung von Leid dient.

 

In Anlehnung an Oskar Negt beschreibt Borst Solidarität als eine Lebensform, ohne die eine Gesellschaft zerfällt. Obwohl in einer sehr engen Beziehung zu emanzipatorischen Bestrebungen, ist sie jedoch auch immer durchzogen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Solidarität ist diesem Verständnis nach konstitutiv für demokratische Gesellschaften.

 

Solidarität oder Konkurrenz?

 

Solidarität als kulturelle Errungenschaft muss gelernt werden – und das geht nur in einer Atmosphäre der gegenseitigen Anerkennung, die dem utilitaristischen Konkurrenzprinzip entgegensteht. Wie können Erfahrungen von gemachter und erlebter Solidarität wieder vermehrt möglich sein in einer Zeit, in der alle Lebensbereiche unter dem Diktat der Nützlichkeit, Effizienz und Optimierung ökonomisiert werden? Das Bildungssystem als Sozialisationsinstanz spielt dabei eine wesentliche Rolle, indem notwendige Praktiken des gesellschaftlich anerkannten sozialen Miteinanders eingeübt werden.

 

Weiter meint Borst, dass besonders im Bildungssystem Beschäftigte hier gefordert sind, Solidarität und Bildung kritisch zu diskutieren und Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit zu entfalten. Sie setzt sich ein für eine kritische Bildung die es ermöglicht, die Empörung, das Unbehagen und das Leid aufzugreifen und konstruktiv zu wenden.

 

Die Pädagogik kann jedoch die Politik nicht ersetzen. Eine Voraussetzung für solidarisches Handeln ist die Solidaritätsbereitschaft auf allen Ebenen (in der intersubjektiven Interaktion, im institutionellen und im gesellschaftlichen Bereich). Sie schloss ihren Vortrag mit einem Appell an Multiplikator_innen und Pädagog_innen, sich politisch zu engagieren.

 

Geschichten vom guten Leben

 

Rudolf Egger (Universität Graz) beschäftige sich in seinem Vortrag mit den Bedingungen, derer es bedarf, damit Menschen sich selbst und ihren Mitmenschen eine Geschichte des sozialen Miteinanders erzählen können. Aus der Perspektive der Lernweltforschung verfolgte Egger keinen normativen Ansatz sondern machte sich auf die Suche nach Möglichkeiten des solidarischen Handelns.

 

Obwohl die Zeitdiagnose erdrückend scheint (der Rückzug ins Private, Isolation, der übersteigerte Konsumismus, der Karrierismus, die Erosion der Familie usw.), gab es gleichzeitig noch nie so viele Menschen, die sich in sozialen Medien äußern, Position beziehen und ihre Meinung äußern. Etwas, wovon die Erwachsenenbildung in den 70ern und 80ern geträumt hat, erinnert sich Egger. Auch das Spendenvolumen wird das Rekordniveau des vergangenen Jahres halten können. Es gibt sie also noch, diese Engagementelemente.

 

Wenn wir jedoch weiter über Solidarität nachdenken, tauchen viele Fragen auf: Welche Rolle spielt persönliches Engagement? Wie viel investiere ich? Warum sollte ich mich für etwas einsetzen, das allen gehört? Wo spüre ich eine Verantwortung? Welche Bilder von Solidarität, vom „guten Leben" leiten uns? Was hält unsere Gesellschaft zusammen und was treibt sie auseinander?

 

Bedingungen für Solidarität

 

Gesellschaftliche Macht beruht nicht einfach auf Gewalt, Zwang oder Unterdrückung – es geht auch um die Zustimmung zu bestimmten Erzählungen und Interpretationen. Welche Geschichten vom prinzipiell guten Leben stehen z.B. hinter politischen Diskursen und warum stimmen wir (nicht) zu? Hinter unseren Handlungen stehen immer kleine und große Organisationsstrukturen und Vorstellungen davon, wie Leben funktionieren kann.

 

Was sind nun die Bedingungen für ein soziales Miteinander, für Solidarität? Für Egger geht es hier um das Erkennen von Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit, den Bezug zur eigenen Biographie, die Freiheit des/der Einzelnen, das Aushalten von unlösbaren Fragen, den Willen nach Resonanz im Anderen und schließlich die Fähigkeit und den Willen, die eigene Welt zu interpretieren und zu verantworten. Solidarität beginnt dann, wenn man eine Geschichte über sich erzählen kann, in der man Teil einer Gemeinschaft ist und dennoch nicht auf „die Anderen" vergisst.

 

Grundhaltung in der Bildungsarbeit

 

Für die Bildungsarbeit beinhaltet das die Aufgabe, Maßstäbe für Solidarität zu entwerfen, zu kommunizieren und zu verhandeln. Egger betont außerdem den Stellenwert kommunaler Verstärker (in Bezug auf Unterstützung und Informationen) und den von Rollenvorbildern (z.B. in Vereinen oder im Ehrenamt) in diesem Prozess. Motivation, Offenheit und Begeisterungsfähigkeit seien dabei zentral als Grundhaltung in der Bildungsarbeit aber auch bei sozialen und politischen Entscheidungsträger_innen.

 

Möglichkeiten der (Inter-)Aktion

 

In den Workshops stellten wir uns die Frage, wie wir Entwicklungen rund um Solidarität aktiv mitgestalten können.

 

Maren Beaufort und Josef Seethaler (Österreichische Akademie der Wissenschaften) fragten in ihrem Workshop nach Voraussetzungen, damit digitale Solidarität erfolgreich realisiert werden kann und worin das Potenzial digitaler Medien (insbesondere sozialer Online-Netzwerke) bei dieser Realisierung liegt.

 

Michael Wrentschur (Universität Graz, InterACT) machte Solidarität und kollektives Handeln durch partizipative Theaterarbeit in der Tradition des „Theaters der Unterdrückten" auf vielfältige Weise erfahrbar. Unter Anwendung von partizipativen Theaterwerkzeugen wird gemeinsam untersucht, wie Prozesse von (Ent-)Solida-risierung in der Erwachsenenbildung aktuell erlebt und erfahren werden, welche Spannungsfelder damit verbunden werden und welche Bilder und Vorstellungen von Solidarität als wünschenswert erscheinen.

 

Dirk Eilers (freiberufliche Bildungs- und Theaterarbeit) reflektierte in seinem Workshop mit uns das Thema Solidarität/Verbündet Sein aus der Social Justice und Diversity Perspektive (www.socialjustice.eu). Wir näherten uns Fragen der eigenen De-/Privilegierung und loteten anhand von konkreten Beispielen Möglichkeiten und Grenzen aus, sich für mehr Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit im Sinne des Social Justice einzusetzen.

 

In ihrem Workshop gab Jessica Schnelle (Migros-Kulturprozent) Inputs zu Generationenprojekten in der Schweiz: mit den sozialen Projekten des Migros-Kulturprozent wird der gesellschaftliche Zusammenhalt gefördert und Bildung außerhalb traditioneller Bildungsstätten ermöglicht. Gemeinsam mit den Teilnehmenden wurde der Zusammenhang von Bildung (im weiten Sinn) und Generationensolidarität reflektiert.

 

Rubia Salgado und Gergana Mineva (das kollektiv) fragten in ihrem Workshop nach den Verlierer_innen in der Vorteilsrechnung des Migrations- und des Integrationsmanagements. Eingerahmt vom Ansatz der Pädagogischen Reflexivität (entnommen aus dem Konzept der Migrationspädagogik) tauschten sich die Teilnehmer_innen über Haltungen, Positionen und Strategien im Hinblick auf das ambivalente und umstrittene Thema der Solidarität aus.

 

Strukturelle Verankerung von Solidarität

 

Über die Herausforderungen, Vor- und Nachteile struktureller Verankerung von Solidarität sprachen wir in der abschließenden Podiumsdiskussion. Was hemmt es, was ermöglicht es? Wie wird Solidarität in der eigenen Organisation gelebt?

 

Gabriele Huterer erzählte von SOL - Menschen für Solidarität, Ökologie und Lebensstil, die es mit einer Struktur für die permanente Vernetzung von Ehrenamtlichen und Initiativen geschafft haben, spontane Solidaritätsaktionen strukturell zu verankern, in einem großen Diskussionsprozess zu reflektieren und daraus wieder Projekte zu entwickeln.

 

Für Sepp Wall-Strasser (Verband Österreichischer Gewerkschaftlicher Bildung) meint Solidarität strukturell verankerte, gesetzlich und vertraglich gesicherte Solidarität. Das Hauptprinzip dabei sei das Einstehen füreinander in gegenseitiger Verpflichtung, wie z.B. bei der Sozialversicherungskasse.

 

Rubia Salgado (das kollektiv) setzt hier einen Schritt davor an und wirft am Beispiel des Ausländerbeschäftigungsgesetzes die Frage auf, wer Zugang zum Solidarsystem (Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, ... ) habe und wer von diesem „wir" ausgegrenzt wird. Ihr Verständnis von Solidarität grenzt sich ab von (vor)herrschenden (christlichen, sozialistischen, ...) Solidaritätskonzepten im europäischen Kontext.

 

Mario Friedwagner definiert Solidarität als die Zusammenarbeit aller zum Vorteil einer/eines jeden. Das Freie Radio Salzkammergut (FRS) setzt sich ein für ein Wir-Gefühl, das offen bleibt und Raum schafft für neue Strategien abseits von Konkurrenzverhältnissen. Zentral ist hierbei die Sicherstellung von Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit und der Versuch, eine Gegenöffentlichkeit zu erzeugen, Menschen hörbar zu machen, die sonst im öffentlichen Diskurs nicht gehört werden.

 

Jessica Schnelle setzte sich für das Mitdenken eines Zwischenraums ein - abseits der Dichotomie von „spontan" und „strukturell verankert". Damit gemeint sind zum Beispiel Initiativen, die sich über mehrere Jahre hinweg engagieren und massiv zum Verständnis dafür beitragen, was an strukturell verankerten Transferleistungen notwendig ist. Es brauche mehr Plattformen die – nicht paternalistisch – Möglichkeiten bieten sich zu engagieren, wo Vernetzung stattfindet und die die Bereitschaft schärfen, andere mitzudenken.

 

Kampf gegen die Gemütlichkeit

 

Rückblickend bleiben am Ende der Tagung viele Fragen offen: Wie können wir unserer beruflichen Praxis Möglichkeitsräume schaffen, die Solidarität erfahrbar machen? Wie können wir durch Bildung und als Bildungsinstitution Empörung, Unbehagen und Leid aufgreifen?

 

Es bleibt die Erkenntnis, dass es (auch) ein Kampf gegen die eigene Gemütlichkeit ist. Solidarität steht immer auch in Verbindung mit einer Bereitschaft zur Reflexion und Veränderung: Warum werde ich aktiv? Für wen? Was treibt mich an, was sind meine Motive und was die ersehnten Ergebnisse? Mit welcher Berechtigung wollen wir andere ermächtigen, emanzipieren, bilden? Kritik am System ist immer auch radikale Selbstkritik, weil wir abhängig, beeinflusst und ein Teil davon sind.

 

Wir konnten von dieser Tagung keine Antworten auf all diese Fragen erwarten – das war auch nicht unser Anspruch. Vielmehr ging es darum, den Blick zu weiten, zu reflektieren und vor allem sich selbst und seinen Position in der Welt kritisch zu hinterfragen.

 

Serie: Solidarität, Teilhabe und Ermächtigung in der Erwachsenenbildung

 

In welcher Gesellschaft wollen wir miteinander leben? In Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche und demokratischer Erosion ist diese Frage für Erwachsenenbildung von steigender Bedeutung. Mit freiem Auge erkennen wir die gesellschaftlichen Brüche und Verwerfungen, die von einer zunehmend entsolidarisierten Gesellschaft zeugen. Wie wir leben wollen ist eine Frage, die beim Umgang mit uns selbst und unseren Nächsten anfängt, aber bei weitem nicht dort endet. In postdemokratischen Zeiten stehen die Verhältnisse, Strukturen und Exklusionsmechanismen mindestens ebenso sehr zur Verhandlung, wie humanistische Wertvorstellungen und Aufklärungsideale. Ein Blick, den uns das "Bildungsevangelium" als Erzählung vom persönlichen Erfolg durch Bildung immer wieder verstellt. Alle bisher zur Serie #ebsoli erschienen Beiträge finden Sie hier.

 

Weitere Informationen:
  • Die beiden Vorträge (Eva Borst und Rudolf Egger), die Podiumsdiskussion sowie Gedanken aus dem Filmkastl können nun nach-gesehen werden! Weitere Rück- und Einblicke bieten die Fotos.
    » zur Dokumentation
  • www.bifeb.at

Verwandte Artikel