Geschichten, die das Leben schrieb …
Das war unsere Zeit: Eine Generation erinnert sich
Keine Generation hat so viele Veränderungen miterlebt wie jene der jetzt über 80-Jährigen. Für den Arbeitskreis Seniorenbildung im Salzburger Bildungswerk war das der Anlass, das Projekt „Das war unsere Zeit“ zu initiieren. Wie sah das Leben in den Gemeinden aus? Welchen Schulweg mussten Kinder um 1935 zurücklegen? Was erlebten sie im Unterricht? Wie wurde Weihnachten gefeiert? Und was hat sich eigentlich in den letzten siebzig Jahren verändert? All diese Fragen liefern subjektive Erinnerungen, die ein besonderes Stück Salzburger Geschichte dokumentieren und für nachkommende Generationen identitätsstiftend sein können. Deshalb sollten möglichst viele ältere Menschen hinsichtlich ihrer Biografien aktiviert, das Erzählte durch örtliche Archive, Chroniken, Stadt- und Landesarchiv dokumentiert und diese Art der örtlichen Wissens- und Geschichtsspeicherung in Gemeinden als Fixeinrichtung verankert werden.
Nach vier Jahren engagierter Arbeit ist dieses ehrgeizige Ziel nun erreicht: 270 Interviews wurden in allen 119 Salzburger Gemeinden geführt und aufgezeichnet, rund 14.000 Minuten an Videoaufnahmen zur weiteren Verwendung produziert. Und für 4 Bezirke des Landes – Flachgau, Lungau, Pinzgau und Pongau – sind diese Interviews bereits als Buch erhältlich. Mit den Buchausgaben über den Tennengau und die Stadt Salzburg wird das Projekt 2017 abgeschlossen.
„Ich bin tief beeindruckt über die offenen Schilderungen, die Kargheit, Not und die Verführungen dieser Zeit werden damit sehr lebendig“, fasst der Verleger der Bücher, Mag. Volker Toth, seine Eindrücke zusammen. „Nichts wird verschwiegen, diese Bücher berühren und sind trotz aller Entbehrungen geprägt von einer tiefen Dankbarkeit für dieses Leben“, meint Volker Toth. „Ich hoffe besonders, dass diese Erinnerungen in Schriftform auch unsere Jugend erreichen.“
Großes ehrenamtliches Engagement
Um in den Gemeinden das Bewusstsein für die Wichtigkeit dieser „oral history“ zu wecken, gingen den Befragungen öffentliche „Erzählcafés“ voran. Dabei konnten alle Interessierten teilnehmen – zuhören oder erzählen. Bei der Suche nach Interviewpartnern und -partnerinnen wurden die Projektverantwortlichen von den örtlichen Bildungswerken und den Gemeinden unterstützt. Die Initiative war von Beginn an auf großes ehrenamtliches Engagement ausgerichtet: Rund 20 Personen arbeiteten im Kern- bzw. Projektteam mit, und 9 Interviewerinnen und Interviewer stellten sich nach einer kurzen Schulung in Interviewtechnik der Aufgabe, mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im ganzen Land Salzburg Gespräche zu führen und diese aufzuzeichnen. Sie haben dafür rund 600 Stunden ihrer Freizeit investiert. Eine „Investition“, die sich für die Interviewenden in jedem Fall gelohnt hat.
„Diese Gespräche haben mich in mehrfacher Hinsicht beeindruckt“, erzählt Interviewerin Heidelinde Kahlhammer. „Die Offenheit und Herzlichkeit der interviewten Menschen werden mir ebenso in Erinnerung bleiben wie die sprachliche Lebendigkeit und die vermittelte Freude darüber, wie schön wir es im Hier und Jetzt haben“. Ganz besonders beeindruckt habe sie aber das unerwartete Vertrauen: „Viele haben über Erfahrungen und Erlebnisse gesprochen, worüber sie vorher noch nie geredet hatten“.
Individuelle Lebenszeugnisse sind Beitrag zur kollektiven Geschichtsschreibung
Alle im Projekt gesammelten individuellen Lebenszeugnisse stellen einen Beitrag zur kollektiven Geschichtsschreibung dar. Geschichte besteht nicht nur aus epochalen Ereignissen, sondern ganz wesentlich auch aus den zahlreichen Geschichten von Menschen, die eine Epoche prägen. Bei der Erfassung individueller Lebensgeschichten ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass erzählte Erlebnisse und Ereignisse nicht so wiedergegeben werden, wie sie tatsächlich passiert sind, sondern wie sie von Einzelnen wahrgenommen wurden bzw. letztlich heute, zum Zeitpunkt der Abfrage, erinnert werden.
Diese bislang „unsichtbaren Erzählungen“ werden nun durch Videoaufzeichnungen sichtbar gemacht und fordern die Zuhörenden heraus, sich mit dieser individuellen Geschichte auseinanderzusetzen. Dem Zuhören kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Die BetrachterInnen des Films/die LeserInnen der Zeitzeugenbücher interpretieren aus ihrem Vorverständnis heraus die lebensgeschichtliche Erzählung und nehmen so eine systematische Erkundung eines Lebenslaufes vor. Diese Teilhabe an der Erinnerung anderer führt dazu, Zusammenhänge zwischen individuellen und gesellschaftlichen Phänomenen aufzuzeigen und dadurch auch zu einem vitalen Prozess des „Verstehen-Lernens“ beizutragen.
Besondere Form von Wertschätzung
Bei den Interviews wurde klar, dass diese Gespräche mehr sind als das reine Abfragen von historischen Fakten. „Die Anteilnahme, das Zuhören und interessierte Nachfragen nach subjektiven Erlebnissen stellte für die Interviewten eine besondere Form der Wertschätzung dar“, ist Mag. Christa Wieland vom Salzburger Bildungswerk überzeugt. „Der Umstand, dass sich eine Bildungseinrichtung den Erfahrungen einer Generation in so umfassender Form zuwendet, ist von der Annahme geleitet, dass uns diese Generation etwas mit- und weiterzugeben hat“. Wesentlich ist, dass nicht die Geschichte selbst einer Bewertung unterzogen wird, im Sinne von „besonders interessant“, „herausragend“ oder „sensationell“, sondern dass eine jede Lebensgeschichte eine einzigartige Schilderung darstellt, die aufgrund dieser Einzigartigkeit Wert ist, festgehalten und weitererzählt zu werden.
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